Schicksal . Verhängnis oder Chance?


Diskurs SWR2 
R. Beyer: Schicksal 
-ds-swr2-14-5schicksal

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Sendung: Donnerstag, 23.04.2015, 08.30 Uhr
Von Rolf Beyer
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Alexander Schuhmacher
Produktion: 2015
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Service:

Schicksal . Verhängnis oder Chance?

ÜBERBLICK
Die antiken Griechen sprachen von Moiren, die Römer von Parzen, die Germanen von Nornen: gemeint waren die Schicksalsmächte, also personifizierte oder anonyme Kräfte, denen jeder Mensch ausgeliefert ist. Dabei handelt es sich um Ereignisse, die der Einzelne nicht planen kann, wie etwa die eigene Geburt, Krankheit und Tod, aber auch Naturkatastrophen oder Kriege. Jeder Mensch hat eine bewusste oder unbewusste Haltung dem Schicksal gegenüber. Diese Haltungen werden bis heute von Vorstellungen aus der Antike und dem Christentum geprägt: Ergebenheit ins Schicksalshafte, Resignation, aber auch Widerstand und Rebellion. Und angesichts der modernen Medizin wittert manch einer die Chance, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.

INHALT
O-Ton 1: Kurzer Musikvorlauf (Wassermann spielt Klavier)
(F. Wassermann) Ich spiele jetzt einmal die ersten Takte der 5. Sinfonie von Beethoven, die im Jahr 1808 uraufgeführt wurde.
Regie: Beethoven 5. Sinfonie aus Archiv
O-Ton 1 weiter:
(F. Wassermann) Beethoven selbst soll diese ersten Takte mit den Worten kommentiert haben: „So klopft das Schicksal an die Pforte!“
Regie: Beethoven 5. Sinfonie aus Archiv, darüber:
Ansage:
Schicksal – Verhängnis oder Chance? Eine Sendung von Rolf Beyer.
O-Ton 2: (F. Wassermann)
Auf Grund seiner Worte nannte man die Fünfte auch die „Schicksalssymphonie“, und man meinte, dass Beethoven sein eigenes Lebensschicksal gemeint habe.
Sprecherin:
Franz Wassermann, Musikdirektor an der Universität Heidelberg.
O-Ton 3: (Franz Wassermann)
Sein Gehörleiden hatte sich über ein Jahrzehnt immer mehr verschlimmert.Schon sechs Jahre vor Aufführung der Fünften hatte er in einem Testament – man nennt es das Heiligenstädter Testament – sein Leiden beklagt.
Zitator:
O ihr Menschen, die ihr mich für feindselig haltet, bedenket nur, dass ein heilloser Zustand mich befallen (hat). Früh musste ich mich absondern, einsam mein Leben zubringen. O wie hart wurde ich durch die Erfahrung meines schlechten Gehörs zurückgestoßen. Es fehlte wenig, und ich endigte mein Leben – nur die Kunst, sie hielt mich zurück, und so fristete ich dieses elende Leben, wahrhaft elend. Geduld – so heißt es – sie muss ich nun zur Führerin wählen, dauernd – hoffe ich – soll mein Entschluss sein auszuharren, bis es den unerbittlichen Parzen gefällt, den Faden zu brechen.
Sprecherin:
Beethoven spricht – wie die alten Römer - von den unerbittlichen Parzen, die von den antiken Griechen Moiren, von den Germanen Nornen genannt wurden. Dabei handelte es sich um Personifikationen von eigentlich unpersönlichen, anonymen Schicksalsgewalten, die den Lebensfaden spinnen, Abschnitte zuteilen, den Faden letzthin abschneiden. Sogar die Götter waren ihnen untertan. Vielleicht hatte Beethoven jenes Lied im gepeinigten Ohr, das Johann Wolfgang von Goethe fast dreißig Jahre zuvor den Parzen in den Mund gelegt hatte, in dem von den Göttern die Rede ist, die unbarmherzig das Los exekutieren, das die Parzen willkürlich verhängt haben. Beethoven spricht von den „unerbittlichen Parzen“ im Plural; in der Einzahl spricht er vom „harten Schicksal“, das ihn betroffen hat. Er beklagt das, mahnt sich aber zur Geduld, fügt sich letzthin – so scheint es - in sein Schicksal.
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Zitator:
Ertragung, Ergebung, Ergebung, so gewinnen wir noch beim höchsten Elend. Innigste Ergebung in den ungebeugten Willen des eisernen Geschicks: Gehorsam und Entsagung und wandellose Treue bis ins Grab. Gelassen will ich mich also allen Veränderungen unterwerfen, und nur auf deine Güte, Gott, mein ganzes Vertrauen setzen.
O-Ton 4: (F. Wassermann)
Beethoven bemüht hier Trostreserven, die aus der antiken Philosophie und zugleich aus christlicher Religion stammen. Vielleicht kannte Beethoven auch den wohl berühmtesten Satz, der je über das Schicksal geschrieben wurde. Dieser Satz stammt von Seneca, einem Stoiker aus dem ersten Jahrhundert nach Christus.
Zitator:
Den Willigen führen die Schicksalsmächte, den Unwilligen aber schleifen sie einfach nur mit.
Sprecherin:
Die stoischen und die christlichen Trostreserven wurden nicht nur von Beethoven, sondern vor und nach ihm von vielen Menschen genutzt. Der Philosoph Franz Josef Wetz hat in seinen Büchern immer wieder über das Schicksal und die Leistungsfähigkeit der Trostangebote nachgedacht:
O-Ton 5: (F. J. Wetz)
Das Christentum hat für unsere Schicksalsschläge, die uns regelmäßig heimsuchen, große Tröstungen. Es verspricht uns den Beistand eines Gottes, es verspricht uns ein anderes Leben nach dem Tod, es verspricht uns sogar den Sinn dieser Schicksalsschläge selbst, dass nämlich dieses Leid, dieser Schmerz selbst einen uns oftmals verborgenen Sinn hat. Der stoische Trost ist nicht so umfassend wie der christliche Trost. Er orientiert sich eben an dem Unabwendbaren, an dem, was ich ohnehin nicht ändern kann und empfiehlt mir, meine Erwartungen an das, was ist, anzupassen.
Sprecherin:
Auch Giovanni Maio, Philosoph und Medizinethiker an der Universität Freiburg, beschäftigt sich ausgiebig mit der Frage, welche Bedeutung das Schicksal für den Menschen hat. Maio hebt nicht so sehr die Anpassung ans verhängte Schicksal hervor, sondern die Chancen und Gestaltungsfreiheiten, die sich bieten:
O-Ton 6: (G. Maio)
Was Schicksal bedeutet, hat Seneca sehr schön ausgedrückt, indem er sagte: „Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen schleift es mit sich.“ Und damit wird deutlich, dass das gute Leben nur möglich ist, indem der Mensch lernt, bestimmte Grenzen der Einflussmöglichkeit anzunehmen und innerhalb dieser Grenzen sich dann einzurichten. Wenn der Mensch jede Grenze als eine widrige begreift und sich gegen alle Grenzen wehrt und nichts annehmen möchte, was sein Sein bestimmt, dann ist es letzten Endes so zu verstehen, dass er vom Schicksal mitgerissen wird, weil er dann die Freiheitsmomente übersieht, die er hätte, wenn er diese großen Grenzen annähme.
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Sprecherin:
Bei Beethoven wiederum liegt die Bewältigung seines schweren Lebensschicksals noch ein bisschen anders. Er passt sich nicht einfach dem Schicksal an, er nutzt die Freiheitsräume auf eigene Weise. Franz Wassermann:
O-Ton 7: (F. Wassermann)
Schon Jahre vor der Uraufführung der Schicksalssinfonie sammelt Beethoven Material für eben diese Symphonie. Und im Jahr 1801 schreibt er an einen Freund: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht.“ Dieser Satz zeigt, wie Beethoven mit seinem Schicksal – sein Gehörleiden hatte sich verschlimmert - umgegangen ist. Er hat sich den unerbittlichen Parzen nicht unterworfen, er hat sich auch nicht einfach resignierend angepasst, er hat dem Schicksal widerstanden. Und seine musikalische Kunst war Ausdruck dieses Widerstandes, die Züge des Heroischen trägt, wie das Ende der 5. Symphonie mit ihrem triumphierenden und heroischen Gestus deutlich zeigt.
Regie: Triumph-Motiv aus Finale 5. Symphonie
Zitator:
Innigste Ergebenheit in dein Schicksal, nur diese kann dir die Opfer geben – o harter Kampf! Du darfst nicht Mensch sein für dich, nur für andere; für dich selbst gibt’s kein Glück mehr als in dir selbst in deiner Kunst.
Sprecherin:
Irgendwie sind wir alle Beethoven. Denn jeder wird irgendwann, irgendwie heimgesucht von Schicksalsschlägen, von Krankheit, Leid, Verlust. Manches kommt von außen, ist Verhängnis, wie beispielsweise Naturkatastrophen. Anderes - wie Völkermord, Kriege, Vertreibung und Flucht - wird von anderen Menschen verursacht. Der Philosoph Arthur Schopenhauer charakterisierte deshalb das Leben ganz pessimistisch.
Zitator:
Schicksal, im Ganzen und Allgemeinen: Alles ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod.
Sprecherin:
Schicksalshaft verhängt sind aber nicht nur schreckliche Schicksalsschläge, sondern auch das, was der Philosoph Martin Heidegger als „Geworfenheit“ des Menschen bezeichnete. Der Medizinethiker Giovanni Maio spricht lieber von den eher unspektakulären Vorgegebenheiten des menschlichen Lebens, die auch so etwas wie Schicksal sind, weil kein Mensch frei über sie bestimmen kann.
O-Ton 8: (G. Maio)
Zunächst ist jeder Mensch mehr Schicksal, als er denkt, weil jeder Mensch zu einer bestimmten Zeit auf die Welt kommt, die er sich selbst nicht aussuchen kann, und in die Welt geschickt wird, ohne dass er dieses Geschickt werden in irgendeiner Form beeinflussen könnte, d. h. der Mensch findet sich immer vor in einer bestimmten Welt, in einer bestimmten Kultur, in einer bestimmten Zeit, das ist sein Schicksal. Aber sein Schicksal ist es zugleich, dass er nie weiß, was morgen sein wird, dass
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Dinge sich ereignen können, die er nicht im Voraus berechnen kann und planen kann.
Sprecherin:
Man kann aber noch weiter gehen und das Leben selbst, also die Zeitlichkeit und Endlichkeit des Lebens als Schicksal begreifen. Philosoph Franz Josef Wetz:
O-Ton 9: (F. J. Wetz)
Kurzfristig leben wir, mittelfristig sterben wir, und längerfristig sind wir vergessen. Und so haben wir hier eine große Herausforderung an uns, nämlich das Leben als ein endliches Widerfahrnis akzeptieren zu lernen.
Sprecherin:
Irgendwie sind wir also alle Beethoven, andererseits aber sind nur die wenigsten von uns Beethoven. Denn wer vermag es schon, sich heroisch in Werken der Kunst zu verwirklichen? Manch einer wird die ihn überwältigenden Mächte des Schicksals so lange es geht einfach verdrängen, wie es schon vor fast viertausend Jahren dem mesopotamischen Gilgamesch angeraten wurde:
Zitator:
Du, Gilgamesch,
feiere täglich ein Freudenfest!
Tanz und spiel bei Tag und Nacht!
Sprecherin:
Und auch der Apostel Paulus kannte einen vergleichbaren Spruch:
Zitator:
Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.
Sprecherin:
Man kann das Schicksal sozusagen lustvoll, also hedonistisch verdrängen, man kann es aber auch ignorieren, indem man es gar nicht an sich herankommen lässt. Dafür steht auf klassisch gewordene Weise der Moralphilosoph Epiktet, wie Seneca ein Stoiker der Spätantike.
Zitator:
Einige Dinge sind in unserer Gewalt, andere nicht. Nicht in unserer Gewalt sind: Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: alles, was nicht unser Werk ist. Und wenn (dich) etwas betrifft, dass nicht in unserer Gewalt ist, so sprich nur jedes Mal zugleich: „Geht mich nichts an!“
O-Ton 10: (F. J. Wetz)
Eine Strategie ist es, dem Schicksal letztlich überhaupt keinen Raum zu lassen. Epiktet ist ein solcher Vertreter, d. h. man soll dem Schicksal so begegnen, als wäre man unsichtbar, d. h. wenn man unsichtbar ist, kann das Schicksal mich gar nicht treffen, sich so herunter pegeln, dass man unangreifbar ist.
Sprecherin:
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Ignorieren kann auch dadurch geschehen, dass man das Schicksal verharmlost. Dafür steht, in wiederum klassischer Weise, der Philosoph Epikur, der im vierten Jahrhundert vor Chr. lebte.
Zitator:
Ein einziger Grundsatz wird dir Mut geben, der Grundsatz, dass kein Übel ewig währt, ja nicht einmal sehr lange dauern kann.
O-Ton 11: (F. J. Wetz)
Im Gegensatz zur stoischen Tradition versucht der Epikuräismus dieses Problem eigentlich kleinzureden. Da haben wir einerseits beispielsweise diesen Hinweis, Krankheiten, schwere Krankheiten dauern nie lange; schwere Krankheiten gehen schnell vorüber, und leichte Krankheiten sind sowieso nicht schlimm. Und das berühmteste von Epikur, eben der Tod – vor dem Tod müssen wir uns auch nicht fürchten, weil wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr da, und solange wir da sind, ist der Tod nicht da.
Sprecherin::
Ob man nun das Schicksal verdrängt oder es ignoriert, indem man sich selbst klein macht oder das Schicksal klein redet: wirklich überzeugend ist das alles nicht, denn die Geschicke des Schicksals kann man nicht hintergehen. Bleibt einem also nichts anderes übrig, als dem Weg Beethovens zu folgen, der – bei allem Widerstand gegen das Schicksal – zum Ende seines Lebens immer religiöser wurde?
O-Ton 12: (F. Wassermann)
In der letzten Aufzeichnung in seinem Tagebuch finden wir ein Zitat eines damals populären Theologen: „Gelassen will ich mich also allen Veränderungen unterwerfen, und nur auf deine unwandelbare Güte, o Gott, mein ganzes Vertrauen setzen.“
Sprecherin:
Es stellt sich die Frage, ob die Trostangebote, auf die Beethoven noch setzen konnte, heute nicht weitgehend erschöpft sind. Anpassung ans Schicksal war für den stoisch und christlich geprägten Menschen möglich, weil ihm die Ordnung des Kosmos trotz aller Schicksalsschläge letztlich als wohlgeordnet erschien.
Mark Aurel, der stoische Philosoph auf dem römischen Kaiserthron im zweiten Jahrhundert:
Zitator:
Aus allen Dingen wird eine Welt und eine göttliche Macht durchdringt alle Dinge.
Sprecherin:
Das moderne Weltbild sieht aber anders aus. Giovanni Maio:
O-Ton 13: (G. Maio)
Wenn wir diesen Gedanken zunächst einmal aufgreifen, der von der Wohlgeordnetheit des Kosmos ausging, und das jetzt übertragen auf unsere Welt, müssen wir da einen Bruch feststellen, insofern als der moderne Mensch diese Wohlgeordnetheit des Kosmos grundsätzlich in Frage stellt und sich gar nicht behaglich fühlt in dem, was da ist. Und auf diese Weise verlernt der Mensch, sich innerhalb des Vorgegebenen auch tatsächlich einzurichten.
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Sprecherin:
Auf ergreifende Weise hat der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert diese kosmologische Heimatlosigkeit, die Unbehaustheit des Menschen ausgedrückt.
Zitator:
Wenn ich sehe, wie blind und elend die Menschen sind, wenn ich bedenke, dass das ganze Weltall stumm ist, dann überkommt mich ein Grauen.
Sprecherin:
Dramatischer noch erlebte Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert den Bruch der Moderne, wenn er in der „Fröhlichen Wissenschaft“ den „tollen Menschen“ vom Tode Gottes sprechen ließ:
Zitator:
Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ (…) „Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! (…)
Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? (…) Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? (…) Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns?
Sprecherin:
Franz Josef Wetz gibt ganz nüchtern die Hintergründe an, die zur Rede vom Tode Gottes führten und damit die religiösen Trostangebote in Frage stellten, mit denen den Schicksalsmächten Sinn und Bedeutung verliehen werden konnte. Warum ist es heute so schwierig, das Schicksal anzunehmen als Fügung Gottes, der man sich glaubend anvertrauen konnte?
O-Ton 14: (F. J. Wetz)
Die großen Sinnversprechen, die großen Sinndeutungen stecken heute in einer tiefen Plausibilitätskrise. Die Ursachen dieser Religionskrise, die wir im westlichen Abendland haben, sind vielfältig. Nicht unwesentlich tragen die modernen Naturwissenschaften dazu bei, nicht unwesentlich, dass wir so viele verschiedene Deutungsmodelle in den Kulturgeschichten haben, dass wir uns fragen müssen, warum soll denn eine von diesen großen Sinngeschichten überhaupt wahr sein.
Sprecherin:
Die großen Sinnversprechen und damit die in ihnen enthaltenen Trostangebote sind für viele Menschen fragwürdig geworden. Gott weg, Trost weg, aber das Schicksal – das ist ja tragische Realität - das Schicksal bleibt. Wie soll sich der Mensch dieser Erfahrung stellen? Eine eindrucksvolle Lösung hat die Moderne geschaffen. Sie lautet: Der Mensch schafft die „anonymen Schicksalsmächte“ ab, indem er sein eigenes Schicksal macht. Man kann diesen Umbruch einer berühmten Begegnung abspüren, die im Jahr 1808 stattfand, also im selben Jahr, als es zur Uraufführung von Beethovens Schicksalssymphonie kam. Es begegnen sich auf dem Hoftag zu
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Erfurt Johann Wolfgang von Goethe, der erste im Reich der Dichter, und Kaiser Napoleon, der erste unter den Weltenlenkern. Aus Goethes Bericht:
Zitator:
Der Kaiser winkt mich heranzukommen. Nachdem er mich aufmerksam angeblickt, fragt er: Wie alt seid ihr? Sechzig Jahr. Ihr habt euch gut erhalten – ihr habt Trauerspiele geschrieben. Ich antwortete das Notwendigste. Er wandte sodann das Gespräch und machte sehr bedeutende Anmerkungen. So kam er auch auf die Schicksalsstücke, die er missbilligte. Sie hätten einer dunkleren Zeit angehört. Was, sagte er, will man jetzt mit dem Schicksal, die Politik ist das Schicksal.
Sprecherin:
Dieses Gespräch beunruhigte Goethe erheblich. Denn hier wagte es ein Mensch, die Schicksalsmächte einfach abzusetzen und an ihre Stelle die Politik einzusetzen, sozusagen eine Art Thronwechsel herbeizuführen. Auf dem politischen Thron saß Kaiser Napoleon selbst, der sich also als Schicksalsmacher verstand. Interessanterweise hat das auch Beethoven verstanden. Nach anfänglicher Verehrung Napoleons wurde er – im Unterschied zu Goethe – zum leidenschaftlichen Gegner des Tyrannen, zu einer Art musikalischem Anti-Napoleon. Nach dem Sieg Napoleons in den Schlachten von Jena und Auerstedt im Jahre 1806 schrieb er:
Zitator:
Schade, dass ich die Kriegskunst nicht so verstehe wie die Tonkunst, ich würde ihn doch besiegen.
Sprecherin:
Dass man das Schicksal durch politisches Handeln, durch politische Ideologien ersetzen kann, glaubt heute wohl keiner mehr. Wie also mit dem Schicksal umgehen, nach der weitgehenden Verabschiedung religiöser, politischer oder ideologisch geprägter Sinndeutungen? Die heutige Antwort auf die Schicksalsfrage scheint im wissenschaftlich technologischen Bereich zu liegen. An der technischen, insbesondere medizintechnischen Abschaffung des Schicksals arbeiten beispielsweise die Präimplantations- und die Pränataldiagnostik. Schwache und kranke Embryonen können vor Einpflanzung in die Gebärmutter identifiziert und ausgesondert werden; mit Erbschäden belastete Föten können abgetrieben werden. Der Medizinethiker Giovanni Maio hat immer wieder eindringlich das Dilemma dieser technischen Abschaffung des Schicksals beschrieben und sich gegen die Präimplantationsdiagnostik und ihre möglichen Entwicklungen bis hin zum „Designerbaby“ ausgesprochen:
O-Ton 16: (G. Maio)
Werdende Eltern heute glauben, dass sie die zukünftigen Kinder gar nicht so sein lassen sollen, wie sie sind, sondern dass sie Einfluss nehmen sollen auf ihre genetische Beschaffenheit, auf ihr Sosein, auf ihre Ausstattung, weil ihnen suggeriert wird, als hätten sie als werdende Eltern eine Verantwortung dafür, den Kindern die besten genetischen Startbedingungen mitzugeben, als wäre es fahrlässig, Kinder so auf die Welt kommen zu lassen, wie sie sind. Und das kommt uns als Zunahme an Freiheit vor. Aber de facto ist es ein Verlust letzten Endes des guten Lebens, weil wir auf diese Weise den Kindern verunmöglichen, sich tatsächlich als Angenommene in ihrem Sosein zu empfinden.
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Sprecherin:
Giovanni Maio vergleicht die Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Schicksal mit einem Fluss, der von seinen Ufern begrenzt wird.
O-Ton 17: (G. Maio)
Wenn wir Schicksal hören, dann denken wir immer nur an das Widrige, im Sinne dessen, dass das Schicksal uns immer nur Grenzen auferlegt. Aber wir verkennen dabei, dass das Leben ja im Grunde wie ein Fluss ist: Wir brauchen, um die Fülle des Lebens zu empfinden, brauchen wir eine Begrenzung des Flusses. Wir brauchen letzten Endes Ufer, durch die überhaupt Fülle entstehen kann. Gäbe es die Flussufer gar nicht, wäre die Fülle gar nicht erlebbar.
Sprecherin:
Auch der Philosoph Franz Josef Wetz spricht sich für eine Annahme des Schicksals aus. Er hat dafür ein Bild geprägt, das Bild vom Sinnbecher:
O-Ton 18: (F. J. Wetz)
Wir versuchen, dem Schicksal oft einen Sinn zu geben, einen großen Sinn. Und für diesen großen Sinn stellen Sie sich einfach mal vor, Sie haben einen Becher, einen großen Becher, und der Becher ist gefüllt, ist randvoll. Und dieser Inhalt dieses Bechers entspricht diesem großen Sinn, der es ermöglicht, dem Schicksal, dass Sie erleiden, einen großen Sinn zu geben. Nun gibt es aber noch einen Weg, der Weg liegt darin, den Becher loszuwerden, oder den Becher durch einen kleinen Becher zu ersetzen, durch einen kleinen Sinn zu ersetzen, der es uns ermöglicht, dann auch uns mit dem Schicksal zu arrangieren.
Sprecherin:
Kleine Sinngebungen in einer vom großen Sinn verlassenen Welt. Wie können sie aussehen?
O-Ton 19: (F. J. Wetz)
Wir sagen oft, dass das Leben sinnlos sei, wenn es den großen Sinn nicht gibt. Wenn Sie mal Ihr Leben genau angucken, was macht Sie denn glücklich? Sind es die letzten großen Fragen in der Grenzsituation des Alltags? Nein! Das sind die vorletzten Fragen. Was sind die vorletzten Fragen oder was sind die guten Antworten auf vorletzte Fragen, die uns durchaus erreichbar sind? Die guten Antworten auf vorletzte Fragen, das sind: Führe ich eine gelungene Partnerschaft? Habe ich eine intakte Familie? Übe ich einen Beruf aus, der mir Freude bereitet? Literatur, Musik, Freundschaft, soziale Anerkennung, Lob, Liebe, das kann auch soziales Engagement sein.
Sprecherin:
Beide, Franz Josef Wetz und Giovanni Maio, plädieren für eine Annahme des Schicksals. Giovanni Maios Position: Ohne Schicksal keine Fülle, Intensität und Freiheit des menschlichen Lebens. Die Position von Franz Josef Wetz: Kleine Sinngebungen des Lebens – trotz schicksalhafter Widrigkeiten. Es fragt sich natürlich, ob beide Positionen auch dann noch haltbar sind, wenn das Schicksal so erbarmungslos zuschlägt, dass der Betroffene keine Gestaltungsmöglichkeiten mehr
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hat. Der Medizinethiker Giovanni Maio weicht diesem Problem nicht aus und vertritt die Position der Mitmenschlichkeit:
O-Ton 20: (Giovanni Maio)
Nehmen wir einen Menschen, der z. B. die Diagnose Demenz bekommt. Was können wir bezogen auf diesen Menschen sagen? Es gibt Menschen, die denken, darauf kann man nur mit Suizid reagieren. Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass es auch eine Möglichkeit gibt, diesem Menschen insofern Trost zu geben, als wir ihm unsere Begleitung, unseren Beistand, unser Dableiben zusichern, und allein durch die Gewissheit, dass man nicht alleine bleiben wird, durch die Gewissheit, dass da jemand sein wird, der sich für mich interessieren wird, der mit mir gehen wird, dass dieses Bewusstsein eine tröstende Funktion haben kann, auch wenn dadurch die Tragik nicht aufgehoben wird und die Krankheit nicht beschönigt werden darf. Aber es kommt darauf an, in welchem Gemeinschaftsgefühl sich dieser Mensch wähnt, wenn er auch mit diesen tragischen Wirklichkeiten konfrontiert wird.
Regie: Musik „An die Freude“ (Beethoven 9. Symphonie), Archiv
Sprecherin:
Dieses Eintreten von Mitmenschlichkeit angesichts tragischer Wendungen des Schicksals geschieht hundert- und tausendfach, sie erscheint unspektakulär, irgendwie bescheiden, eher freundschaftlich als heroisch. Und da mag man noch einmal an Beethoven erinnern, an diesen vom Schicksal geplagten Menschen. In der 9. Symphonie, drei Jahre vor seinem Tode aufgeführt, lässt er – und da dürfen sich alle vom Schicksal Überwältigten mit aufgehoben wissen – das hohe Lied der Geschwisterlichkeit aller Menschen erklingen: „Alle Menschen werden Brüder...“
Regie: Musik „An die Freude“ (Beethoven 9. Symphonie), Archiv
* * * * *
Literaturliste:
Allgemeine Literatur
Maynard Solomon:
Beethoven.
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1987.
Maynard Solomon:
Beethovens Tagebuch 1812-1818.
Beethoven Haus, Bonn 2005.
Franz Josef Wetz:
Lebenswelt und Weltall.
Verlag Günther Neske, Stuttgart 1994.
Franz Josef Wetz:
Abschied von Gott.
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Anmerkungen zu Hans Jonas und Hans Blumenberg.
In: P. Koslowski/F. Hermann (Hrsg.): Der leidende Gott.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2003.
Klaus P. Fischer:
Schicksal in Theologie und Philosophie.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008.
Gustav Seibt:
Goethe und Napoleon.
Eine historische Begegnung.
C. H. Beck Verlag, München 2008.
Giovanni Maio:
Abschaffung des Schicksals?
Menschsein zwischen Gegebenheit des Lebens
und medizin-technischer Gestaltbarkeit.
Herder Verlag, Freiburg i. Breisgau 2011.
Giovanni Maio:
Abschied von der freudigen Erwartung.
Werdende Eltern unter dem Druck der vorgeburtlichen Diagnostik.
Manuscriptum Verlag, Waltrop/Leipzig 2013.
Giovanni Maio:
Medizin ohne Maß?
Vom Diktat des Machbaren zu einer Ethik der Besonnenheit.
Trias Verlag, Stuttgart 2014.
Quellen:
Alexander von Aphrodisias: Über das Schicksal.
Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995.
Cicero: De Fato / Über das Fatum. Lateinisch-deutsch.
Tusculum-Reihe, Heimeran-Verlag, München 1963.
Epiktet: Handbüchlein der Moral. Griechisch-deutsch.
Reclam Verlag, Stuttgart 2008.
Epikur: Briefe, Sprüche, Werkfragmente. Griechisch-deutsch.
Reclam Verlag, Stuttgart 1986.
Seneca: Glück und Schicksal. Philosophische Betrachtungen.
Reclam Bibliothek, Stuttgart 2009.