Kampf gegen das Gewicht - Adipositas

Gesundheit aktuell
Adipositas - Übergewicht
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Kampf gegen das Gewicht
Von Susanne Rytina
Sendung: Montag, 27. Juli 2015, 8.30 Uhr
Erstsendung: Montag, 2. September 2013
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Andrea Leclerque
Produktion: SWR 2013
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

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MANUSKRIPT
Atmo 1: Zwiebel schneiden, Küche, Geschirrklappern
Sprecher:
Andrea Schacht bereitet in ihrer Stuttgarter Küche das Essen vor. Im Ofen schmort Gemüse mit Feta und als Dessert gibt es eine leichte Heidelbeer-Creme.
Cut 1: Schacht
Also ich hab so ziemlich alles ausprobiert, was es auf dem Markt gibt. Angefangen von der Brigitte Diät, mehrfach, dann gab‘s da die berühmte Hollywood-Diät mit 9 Bananen am Tag und solche Geschichten, hab ich ausprobiert. Dann hab ich Trennkost gemacht, dann war auch noch so ne Formuladiät, hab ich auch mal ausprobiert, also querbeet, alles dabei. Der berühmte Jojo-Effekt hat sich immer wieder eingestellt und dass ich hinterher immer mehr gewogen habe wie vorher. Das war auch der Fall.
Ansage:
Kampf gegen das Gewicht
Eine Sendung von Susanne Rytina
Sprecher:
120 Kilo hat Andrea Schacht einmal gewogen, vor drei Jahren hat sie abgenommen und hält ihr Gewicht seither. 20 Kilo ist sie in Eigenregie losgeworden, 38 Kilo hat sie mithilfe des wissenschaftlich unterstützten Bewegungsprogramms „Mobilis“ in zwei Jahren verloren. Ein Jahr lang wurde sie hierfür in der Gruppe von Sporttherapeuten, Ernährungsberatern und Psychologen geschult. Mithilfe eines Programms zur Übergewichts-Behandlung, das nicht von allen Kassen bezahlt wird. Andrea Schacht hat es zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Regina von Eif absolviert, die ihr Gewicht von 100 auf 65 reduzierte.
Cut 2: Schacht/Eif
Schacht: Und außerdem was mich von Anfang an sehr beeindruckt hat, dass das Programm eben über ein ganzes Jahr geht. Und da hab ich mir gleich gedacht, also wenn das wirklich ein ganzes Jahr lang geht und man auch über die Zeit begleitet wird, dann muss da was dran sein, dann muss das Hand und Fuß haben. Ich glaube die Regina brauchte da mehr Überzeugungsarbeit. (lacht)
Eif: War sicher so, also die Vorstellung, Vollkornprodukte, das war mir ein Grauen ein bisschen. Oder Ernährung ändern. Was soll ich denn da groß noch ändern? Also weniger essen, ja, geht ja eigentlich gar nicht. Wie soll ich es denn überhaupt ändern? Und dann auch noch vielleicht Psychologe mit dabei. Das war erst mal so ein bisschen ein Aber, aber schon so, dass ich mich drauf einlassen konnte. Und dann war es eigentlich eine gute Sache.
Sprecher:
Ein Jahr lang haben die beiden gelernt, wie sie ihre Ernährung umstellen. Dutzende von Kochbüchern stehen im Regal.
[Cut 3: Von Eif
Also ich denk, die Menge hat sich jetzt nicht so groß verändert, da denk ich manchmal sogar, also jetzt mit diesem Gemüse, Obst, Salat, und was dazugehört, dass man da heute mehr isst. Aber das was man isst, auch von der Qualität her und auch wie man sich mit Ernährung auseinandersetzt. Also, ja, ich glaub ich hab noch nie so viele Kochbücher gelesen wie ihn der Zeit und dann tatsächlich auch versucht umzusetzen und auch sicher auf Frische von Produkten geachtet.]
Geräusch 1: Blättern in Unterlagen
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Sprecher:
Andrea Schacht holt einen Ordner mit Arbeitsmaterialien und zeigt ihre Ernährungspläne und ihre Gewichtstabelle, während ihre Partnerin in die Küche geht, um das Essen fertig zu kochen. Auch ihre Gesundheitsziele hat sie notiert.
Atmo 2: Schacht
Ich will einen leichten, mobilen Körper, der von einem starken Rücken gestützt wird. Ich will bei ausgedehnten Wanderungen leichten Fußes die Natur genießen.
Sprecher:
Der Haushälterin machte ihre Bandscheibe schwer zu schaffen. Starkes Übergewicht verursacht oft Krankheiten – Gelenkprobleme, Diabetes und Bluthochdruck. Rund 16 Millionen Menschen sind laut Studie des Robert-Koch-Institutes aus dem Jahr 2012 in Deutschland krankhaft dick – ein Viertel der Deutschen hat somit Adipositas, wie starkes Übergewicht genannt wird. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation liegt eine Adipositas ab einem Body-Mass-Index von 30 vor. Die Zahl der Adipösen nimmt zu. Deutschland ist europäischer Spitzenreiter.
Geräusch 2: Biss in einen Keks
Sprecher:
Bei Professor Hans Hauner, Lehrstuhl für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München. Dort ist auch das Kompetenznetzwerk Adipositas angesiedelt, ein vom Bund gefördertes Netzwerk, in dem sich Experten zu allen Fragen von Adipositas austauschen. Im Foyer gibt es Plätzchen und Kekse.
Cut 4: Hauner
Übergewicht ist natürlich ein unpopuläres Thema auch im Gesundheitssystem. Man sieht es daran, die Kassen weigern sich bisher, Übergewichtsbehandlung zu finanzieren. Das heißt, es gibt überhaupt keine Finanzierungsgrundlage, es sei denn, der Betroffene zahlt das selber aus eigener Tasche. Das ist aus meiner Sicht ne Zumutung, denn es ist hier wirklich eine Krankheit vorhanden, nach unserem Verständnis und das kann man auch belegen. Und es ist auch unsinnig, hier nichts zu unternehmen und zu warten, bis dann erst die Folgeschäden auftreten, die dann umso kostspieliger sein werden und die Kassen erst recht belasten. Also auch hier stecken die Verantwortlichen den Kopf in den Sand, statt sich Gedanken zu machen, wie kann man das Problem besser angehen, wie kann man die Prävention stärken, aber auch, wie kann man bereits Betroffene besser unterstützen. Da gibt es bisher kaum Möglichkeiten dazu.
Sprecher:
Den Kampf gegen das Übergewicht gewinnen nur wenige. Nur rund 10 Prozent der Übergewichtigen sind laut US-Studien dauerhaft erfolgreich. Jahrzehntelang wurde unterschätzt, wie hart der Kampf gegen die Kilos ist. Die Schuld wurde lange Zeit bei den Übergewichtigen selbst gesucht. Eine ganze Diätindustrie gaukelt ihnen vor, dass sie in acht bis 12 Wochen erfolgreich sein können, wenn sie nur ihr Verhalten ändern. Doch in Wirklichkeit müssen Betroffene viel mehr machen, um nach einer Diät ihr Gewicht dauerhaft zu halten. Sie müssen sich ein Leben lang kontrollieren und sehr viel Zeit investieren.
Cut 5: Schacht
Also das Gewicht zu halten ist Arbeit. Sich damit zu beschäftigen ist Arbeit. Und sich vom Partner auch mal sagen lassen zu müssen, du, jetzt kuckste mal wieder. Jetzt haste schon wieder ne Schokolade gekauft, überleg dir das mal. Das ist Arbeit. Das heißt nicht, jetzt ist alles Friede, Freude, Eierkuchen, man muss dabei bleiben. Und das ist der Punkt. Dass man dabei bleibt, dass man bereit ist, dabei zu bleiben, und sich damit auseinanderzusetzen. Sich mit Ernährung auseinanderzusetzen, mit Lebensmitteln, mit sich selber, was will ich, was kann ich. Und sich deutlich zu machen, ich will das nicht mehr hin, wo ich war. Also muss ich
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was dafür tun, dass ich da bleib, wo ich bin.
Sprecher:
Andrea Schacht kämpft darum, ihr neues Gewicht zu halten. Die Bandscheibe ist ein Grund, der Traum vom Schlanksein ein anderer. Dicke werden häufig bloßgestellt.
Musik 1: Marius Müller-Westernhagen
Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin, denn Dicksein ist ne Quälerei,
ich bin froh, dass ich so n' dünner Hering bin,
denn dünn bedeutet frei zu sein.
Mit Dicken macht man gerne Späße, Dicke haben Atemnot,
Für Dicke gibt´s nichts anzuziehen,
Dicke sind zu dick zum fliehn.
Cut 6: Schacht
Was ich erlebt habe, war, im Freundes- und Bekanntenkreis, dass ich mich tief verletzt und gedemütigt gefühlt habe. Und das empfinde ich noch viel schlimmer, als wenn man sich über mich lustig machen würde. Also zum Beispiel, das ist schon viele Jahre her, aber ich werd‘ das nicht vergessen, dass ein Bekannter, den ich gebeten hab, er möge mich mit nach Hause nehmen, damit ich nicht mit dem Bus fahren muss, zu mir gesagt hat, er könne mich nicht mitnehmen, ich wär zu dick für seine Autositze. Der fuhr damals einen Alfa Spider, also so ein kleiner Sportwagen. Und das hat mich so verletzt, dem bin ich heute noch böse, dem bin ich auch nie wieder gut, weil mich das so tief getroffen hat. Und solche Sachen passieren leider.
Sprecher:
Dicke Männer, Frauen und Kinder werden von der Gesellschaft gebrandmarkt – 95 Prozent der Bevölkerung denken, dass Übergewichtige selber schuld an ihrer Figur sind. Das haben Umfragen der Universitäten Leipzig und Tübingen ergeben. Ein ganzer Forschungszweig von Psychologen beschäftigt sich mit Vorurteilen zu dicken Menschen in der Gesellschaft.
Geräusch 3: Kaffee
Sprecher:
Bei Stephan Zipfel, Psychologie-Professor vom Universitätsklinikum Tübingen. Es gibt Kaffee.
Cut 7: Zipfel
Ganz klassische Stigmata sind: Adipöse sind faul, Adipöse sind weniger intelligent, Adipöse können sich nicht beherrschen, Adipöse haben im Prinzip weniger Durchsetzungskraft und Wille, das sind typische Stigmata. Aber es geht natürlich auch, je nachdem, in welchen Bereich ich reinschaue. Schaue ich in den medizinischen Bereich gibt es Vorurteile, die bis hin zu Stigmata reichen, dass Adipöse sich weniger um ihren Gesundheitszustand sorgen, dass sie weniger compliant sind, dass sie weniger Empfehlungen folgen, die von Ärztinnen und Ärzten beispielsweise formuliert werden.
Sprecher:
Dicke Menschen geraten durch Stigmatisierung in einen Teufelskreis, sagt der Psychologe. Sie ziehen sich mehr zurück, suchen weniger Hilfe im Gesundheitssystem, von dessen Helfern sie auch häufig im Stich gelassen werden. Selbst Hausärzte wissen manchmal nicht Bescheid über das komplexe Krankheitsbild Adipositas und schieben die Schuld für das Dicksein den Übergewichtigen zu. Hausärzte verbringen sogar weniger Zeit damit, übergewichtige Patienten aufzuklären als Normalgewichtige, wie eine US-Studie anhand einer Video-Analyse von Arzt-Patienten-Gesprächen zeigte.
Die Hausarzt-Praxis ist auch nicht der geeignete Ort für eine Adipositas-Behandlung, sagt die Ernährungsmedizinerin Birgit Maßmann-Schilling aus Osnabrück. Sie ist Sprecherin des
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neu gegründeten Deutschen Netzwerk Adipositas, in dem sich Berufsgruppen wie Ernährungsmediziner, Psychologen, Physiotherapeuten und Diätassistenten zusammengeschlossen haben. Schilling-Maßmann ist auch Mitinitiatorin von Doc Weight – neben Mobilis das zweite multimodale Programm in Deutschland. Die Ernährungsmedizinerin weiß aus der Praxis, dass viele Menschen nicht mit ihren Ärzten über ihr Problem reden.
Cut 8: Schilling-Maßmann
Man verdrängt ein Problem. Wenn ich es nicht anspreche, dann kann es entsprechend auch nicht weiter thematisiert werden. In meiner Praxis erlebe ich sehr schwergewichtige Menschen, die mir also genau das, was Sie mir aus der Studie berichten, auch wiedergeben, indem sie sagen, das ist das erste Mal, dass ich überhaupt über mein Gewicht sprechen kann. Und dann fließen in vielen Beratungen entsprechend auch Tränen, wo Menschen sagen, ich kann überhaupt erst mal loslassen und drüber sprechen. Es verbergen sich dahinter Schicksale, es verbergen sich dahinter Verletzungen, es verbergen sich dahinter Arbeitsplatzverluste, Familienverluste, Scham, ein buntes Feld an ganz vielen Emotionen und da kann der Hausarzt in seiner kurzen Sprechstundenzeit, vielleicht doch auch manches Mal nicht ausreichend drauf eingehen, ahnt das aber umgekehrt auch und bewegt sich deshalb davon weg. Ich möchte das aber nicht generell unterstellen.
Geräusch 4: Wasserflasche
Atmo 3: Sportstunde, Halle
Sprecher:
In der Turnhalle der Cotta-Schule in Stuttgart. Sportstunde beim Mobilis-Programm. Ein Schluck aus der Wasserflasche.
Andrea Schacht und Regina von Eif rennen im Sportdress mit 20 anderen Teilnehmern kreuz und quer durch die Sporthalle. Manche atmen schwer, weil sie zu viele Pfunde mit sich rumschleppen. Doch jedes Mal, wenn Sporttherapeut Martin Stengele spielerische Kommandos gibt, verschwindet die Anstrengung und der Raum verwandelt sich in Bewegungslust.
Atmo Lachen
Für manche Teilnehmer ist es das erste Mal Sport seit vielen Jahren. Ein Jahr lang wird sich die Gruppe regelmäßig treffen. 40-mal werden sie in diesem Jahr in die Turnhalle zurückkehren, 12-mal werden sie Gespräche mit Psychologen über das Essen führen, 5-mal steht Ernährungsberatung auf dem Plan. Mobilis, das Programm, wurde von Sportmedizinern und Kreislaufforschern der Universitätskliniken in Freiburg und Köln entwickelt – im Schnitt nehmen die Teilnehmer laut Studie zwischen 5 und 6 Kilo im Jahr ab. Andrea Schacht und ihre Partnerin Regina von Eif haben Mobilis schon vor zwei Jahren absolviert, und für sich allein weitergemacht. Heute sind sie als Ehemalige zur Motivation da. Bewegung ist der Kern von Mobilis. Andrea Schachts Hobby ist heute Klettern, Regina von Eif joggt und schafft, wenn sie trainiert, 10 Kilometer am Stück.
Atmo 4: Theraband-Übungen
Cut 9: Eif
Also man hat die Belastbarkeit des Körpers ganz anders kennengelernt, also das war tatsächlich streckenweise so, wenn man ein Stockwerk die Treppen hochgegangen ist, früher, war man außer Atem, das ist jetzt nicht der Fall. Von daher hat man den Körper sicher anders, also noch mal neu entdeckt. Weil die Jahre dazwischen war eigentlich gar kein Sport. Da war schon so diese Überlegung, Mensch ich könnte jetzt mal 'ne Viertelstunde spazieren gehen, eigentlich. Oh Gott, da bist du ja total kaputt und musst den ganzen Tag auf dem Sofa liegen, um dich wieder zu regenerieren. Von daher ist das sicher eine ganz neue Erfahrung. Und das erfüllt dann einen auch in gewisser Weise mit Stolz.
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Atmo 5: Entspannung Atmo Halle
Sprecher:
Wie andere Erfolgreiche beim Abnehmen – das sind etwa 10 aller Übergewichtigen – besitzen die Stuttgarterinnen bestimmte Eigenschaften: eine enorme Disziplin in Sachen Sport, sie treiben eine Stunde Sport am Tag, sie kontrollieren regelmäßig ihr Gewicht, mindestens einmal in der Woche, sie planen ihre Mahlzeiten und nehmen sie regelmäßig ein. Sie halten ihr Gewicht, weil sie dem „Projekt Gewicht“ obersten Stellenwert eingeräumt haben.
Die beiden hatten auch Glück, in einer Krankenkassen zu sein, die die Kosten übernimmt, sonst hätten sie 780 Euro aus der eigenen Tasche bezahlt. Doch auch wenn man es selbst finanzieren könnte – es gibt solche Angebote nicht flächendeckend. Wer professionelle Hilfe sucht, steht oft alleine da, ohne die Chance, etwas zu erreichen, sagt Hans Hauner.
Cut 10: Hauner
Ein Problem, was aber oft besteht, ist, dass diese Programme einfach zu kurz sind. Die längsten Programme gehen gerade mal über ein Jahr und es reicht einfach nicht aus, was wir heute wissen, um wirklich eine Lebensweise dauerhaft zu verändern, das braucht länger, das braucht zwei, drei vielleicht auch fünf Jahre. Und daran fehlt es einfach, man kann die Leute nicht nach einem Jahr wieder nach Hause schicken und alleine lassen. Das funktioniert nicht. Wir machen das ja beim Diabetes auch nicht so, dass wir sagen: Du kriegst diese Behandlung für ein Jahr und dann darfst du nicht mehr zu deinem Facharzt gehen oder bei der Hochdruckbehandlung sagen wir auch nicht: Wir behandeln dich jetzt für ein Jahr und dann hören wir wieder auf. [Und dieser Denkfehler wird leider bei der Adipositas gemacht. Das ist ein lebenslanges Problem und wir brauchen natürlich lebenslang Therapieangebote.]
Sprecher:
Zu wenig Angebote, keine Finanzierung. Bezahlt werden allerdings die Folgekosten der Adipositas. Kosten, die etwa durch Diabetes, Bluthochdruck und Gelenkprobleme entstehen. Schätzungsweise 13 Milliarden Euro. [Ernährungsmedizinerin Birgit Schilling-Maßmann:
Cut 11: Schilling-Maßmann
Vielleicht als kleines Beispiel: Für die reine Behandlung der Adipositas als solches wird für Menschen mit einem BMI über 35 23 Euro pro Jahr investiert von den Krankenkassen. Für die Folgekrankheiten der Adipositas 3045 Euro. Wir bleiben, wenn ich das Bild des Unkrautjätens vielleicht einmal verwenden darf, immer nur an der Oberfläche, statt die Wurzeln zu behandeln. Und daher sind natürlich auch die Kostenträger gefragt, um entsprechend Angebote die es rein fachlich, sachlich gibt auch gegenzufinanzieren.]
Atmo 6: Tagung Essen
Sprecher:
Weiterbildung für Kinderärzte in Bad Boll im Tagungshotel. Es gibt Flädlesuppe, Cannelloni mit Tomatensugo sowie Romanesco-Gemüse. Als Dessert: Zimtcreme mit Apfel und Topfenmousse mit Früchten.
Atmo 7: Einführung Vortrag
Wölfel: Sind es die Hormone ist ja eine große Frage, die im Hintergrund steht. Man hat eigentlich im Moment in der Praxis, so geht es mir jedenfalls, wenig Hilfsmöglichkeiten. Man kann sagen, weniger Essen und mehr bewegen, und das ist eigentlich fast alles, was man tun kann.
Sprecher:
Rat erhofft man sich von einem Vortrag von Martin Wabitsch, dem Präsidenten der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, der nun zum Rednerpult geht. Der Pädiatrie-Professor
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vom Universitätsklinikum Ulm ist Spezialist für die Adipositas im Kinder- und Jugendalter. Nur ein Bruchteil, berichtet er, profitierte von den Gewichtsreduktionsprogrammen auf Dauer.
Atmo 8: Studien
Hierzu hatte die Bundesanstalt für gesundheitliche Aufklärung vor vier Jahren die Daten von 20.000 Jugendlichen ausgewertet. [Als erfolgreich zählte, wer fünf bzw. zehn Prozent seines Gewichts auch noch nach zwei Jahren hielt.] Nur drei Prozent zeigten einen sehr guten Erfolg, 10 bis 15 Prozent konnte man noch als erfolgreich einstufen. Allerdings: fünf Programme erreichten deutlich bessere Werte als der Schnitt: [Die Hälfte hatte hier Erfolg und ein Viertel erreichte sogar sehr gute Ergebnisse] – ein Zeichen für die unterschiedliche Qualität der Programme und Auswahl von Teilnehmern. Martin Wabitsch warnt bei den Misserfolgen jedoch davor, die Kinder und Jugendlichen oder ihre Familien dafür verantwortlich zu machen.
Cut 12: Wabitsch
Ich möchte davor warnen, die Personen, die keinen Erfolg haben bei diesen Programmen, in die Schuld zu bringen oder ihnen Schuld zuzuweisen, dass sie selber quasi dafür verantwortlich sind. Diese willentliche Regulation des Körpergewichts, diese Selbstverantwortung, die hier zu übernehmen ist, die ist sicher notwendig und da, aber das Ausmaß, die Größe, aus all dem was wir wissen, sehr, sehr klein. Sie ist da und vorhanden, aber sie darf nicht überschätzt werden.
Atmo 9: Vortrag Biologie
Sprecher:
Heute weiß man, dass etwa 35 Gene an der Veranlagung zum Übergewicht beteiligt sind. Dabei spielt das Gefühl, nicht so schnell satt zu sein, eine entscheidende Rolle. Die Sättigung wird von Hormonen wie Leptin und Insulin gesteuert. Sie signalisieren uns, wann wir genug haben. Bei Adipösen funktioniert diese Steuerung nicht richtig.
Cut 13: Wabitsch
Das heißt eine Person, die sich angestrengt hat und Gewicht abgenommen hat, hat, wenn sie das abgenommene Gewicht halten kann, zwei Jahre nach dieser erfolgreichen Gewichtsabnahme immer noch im Körper die Antwort: „Du bist nicht satt, du musst mehr essen.“ Das heißt diese Menschen müssen über einen großen Zeitraum immer noch sehr kontrolliert sich verhalten und haben biologische Signale in ihrem Körper, die eigentlich gegen dieses erniedrigte Gewicht arbeiten.
Sprecher:
Der Körper von ursprünglich Übergewichtigen hat also auch noch zwei Jahre nach einer Gewichtsabnahme das Gefühl, dass er hungert. Adipöse haben ein ganz anderes Hormonprofil als Menschen, die schon immer normalgewichtig waren. Und ein Körper, der signalisiert bekommt, dass er hungert, wird alles tun, um zum Ausgangsgewicht zurückzukehren.
Dies hat auch mit dem evolutionären Erbe zu tun. Unsere Vorfahren mussten oft lange Zeiten ohne Essen überbrücken. Um nicht zu verhungern lernten manche Menschen im Lauf der Evolution, das Fett in den Zellen äußerst effektiv zu speichern.
In unserer Überflussgesellschaft ist das heute von Nachteil. Ein übergewichtiger Mensch darf deshalb nach einer Diät viel weniger Kalorien zu sich nehmen als eine gleichgewichtige Person, die von Natur aus dieses Gewicht hält. Wer vorbelastet ist, wird kaum ein dünner Mensch werden.
Behandlungen mit Medikamente sind nicht in Sicht, sogenannte Schlankmacherpillen verschwanden wieder vom Markt, weil sie schwere Nebenwirkungen bis hin zu Suizidgedanken auslösten. Zu komplex, zu schwierig ist es, in das System der Appetitregelung und in das Belohnungssystem einzugreifen.
Doch Adipositas ist nicht nur ein genetisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches
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der westlichen Welt, sagt Martin Wabitsch. Ein Überangebot an fetten Nahrungsmittel und ein Mangel an Bewegung lässt die Welt aus allen Nähten platzen. Nach dem Mauerfall etwa haben Kinder und Jugendliche aus der Ex-DDR drastisch an Gewicht zugelegt. Ebenso asiatische Einwandererkinder in Kanada.
Atmo 10: Klopfen des Plenums
Wölfel: Dankeschön Martin für diese, ja bissel deprimierende Einsicht
Wabitsch: Realistisch ...
Geräusch 5: Leitungswasser
Sprecher:
Im Büro des Neurowissenschaftlers und Physikers Hubert Preissl im Universitätsklinikum in Tübingen. Es gibt Wasser aus der Leitung.
Nicht nur der Körper kämpft gegen das Abnehmen, sondern auch das Gehirn, macht Preissl deutlich. Mithilfe des Kernspintomografen, die Röhre, in die Probanden geschoben werden, misst und vergleicht er Hirnströme von Übergewichtigen mit denen von Normalgewichtigen.
Geräusch 6: Kernspintomograf
Cut 14: Preissl
Ich denk, das Gehirn selber hat einen sehr großen, wenn nicht sogar den ausschlaggebenden Einfluss auf unser Essverhalten. Und ohne ein besseres Verständnis von unseren Gehirnprozessen, die unser Essverhalten modulieren und auch steuern, werden wir, glaub ich, dem Problem des Übergewichts sicherlich nicht adäquat beikommen können
Sprecher:
Hubert Preissl und seine Forschungsgruppe haben erste Hinweise geliefert, dass im Körper und vor allem im Gehirn von Übergewichtigen eine Insulinresistenz herrscht. Deshalb kommt bei ihnen das Stoppsignal für das Sattsein viel später an als bei Normalgewichtigen. Ein wichtiger Faktor, der zum Überessen und zum Übergewicht beiträgt. [Es gibt aber auch Unterschiede der Hirnströme im Frontalhirn zwischen Normalgewichtigen und Übergewichtigen. Das Frontalhirn ist für das Kontroll-Verhalten zuständig. Übergewichtige haben offensichtlich mehr Probleme, sich beim Essen zu kontrollieren – in einer Umwelt, in der es Tag und Nacht Essen im Überfluss gibt, wird dieses Kontrollsystem auf eine schwere Probe gestellt – denn es will sich schnell belohnen. Das Belohnungsverhalten scheint in mancher Hinsicht dem von Süchtigen zu ähneln, es gibt aber auch Unterschiede.
Cut 15: Preissl
Einer der Unterschiede ist: Essen müssen sie zum Leben. Normales Suchtverhalten ist nicht überlebensnotwendig. Das ist so der Unterschied und es gibt auch noch andere. ]
Sprecher:
In der ernährungsmedizinischen Praxis in Rottweil von Dr. Martha Ritzmann, die das Programm Doc Weight anbietet. Es gibt Vollkornbrötchen mit Eiern, Frischkäse und Lachs. Dazu Früchtetee.
Atmo 11: Praxis
Hallo Frau Flaig
Ritzmann-Widderich: Soll ich Ihnen ein Tee einschenken, dass er net so heiß ist?
Geräusch 7: Tee eingießen
Sprecher:
Es ist Abend. Patientin Claudia-Flaig ist heute die letzte Patientin, die zur Nachkontrolle kommt, nachdem sie über ein Jahr lang bei Doc Weight mitgemacht hat. Durch dieses
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Programm leiten Mediziner, Ernährungstherapeuten, Sporttherapeuten und Psychologen. Doc Weight wird angeboten für extrem übergewichtige Menschen ab einem Body-Mass-Index von 40 oder ab 35, wenn Folgeerkrankungen schon vorhanden sind.
Atmo 12: Patientengespräch
Wie ist es Ihnen denn ergangen in der Zwischenzeit?
Sprecher:
Claudia Flaig, die 20 Kilo abgenommen hat in einem Jahr, hält ihr Gewicht gut. Mit ihrem Startgewicht von 90 Kilo gehörte sie von Anfang an zu den Schlankeren der Gruppe. Jetzt wiegt sie 70 und macht fünf Mal in der Woche Sport.
Dass ihr Mann sie unterstützt, erleichtert es Claudia Flaig, ihren neuen Lebensstil beizubehalten – soziale Unterstützung ist ebenfalls ein Rezept der erfolgreichen Gewichtsreduzierer, haben Forscher herausgefunden. Claudia Flaigs Mann ermuntert sie, immer wieder beim gesunden Essen zu bleiben, auch in Stresszeiten. Ein Zurück zu dem, was früher für sie als normales Essen galt, will sie nicht mehr. Sie hungert nicht, sondern isst regelmäßig, kocht fettarm und vollwertig. Die Kosten für das Programm Doc Weight, 1700 Euro, hat die Krankenkasse übernommen. Claudia Flaigs Blutwerte haben sich verbessert und der Diabetes ist abgewehrt.
Atmo
Ritzmann-Widderich:
Die anfänglichen diabetischen Werte sind ja weiterhin ordentlich. Das heißt, ich habe ja damals gesagt, Sie haben dem Diabetes einen Fußtritt gegeben, jetzt ist er wieder weg.
Sprecher:
Die Patienten haben schon einiges hinter sich, bevor sie in die Praxis kommen, sagt die Ärztin Martha Ritzmann-Widderich.
Cut 16: Ritzmann-Widderich
Also es gibt nichts, was net irgendjemand schon probiert hätte. Allerdings muss ich sagen, das meiste in Eigenregie oder mit ner kurzen Anleitung, aber niemand hat ein ganzes Jahr ein ganz intensiv geführtes multimodales Programm gemacht, das muss man ganz klar sagen. Also, das gibt es einfach nicht. Und meistens ist es dann so, wenn ich net wirklich ne enge Führung habe, wenn ich selber probier oder ich fang mal an mit einem Acht-Wochen-Programm, man bleibt alleine nicht dabei. Das ist wirklich das Problem. Man schafft das nicht. Und 'ne Gruppe trägt. Ne Gruppe gibt Kraft und Energie. Denn mein Spruch lautet immer: Abnehmen geht nicht nebenher. Abnehmen ist richtig Arbeit und das ganze Herz muss dabei sein, und man braucht Unterstützung von verschiedenen Seiten.
Sprecher:
Früher hat Claudia Flaig viel gegessen, wenn sie Langeweile hatte. Wenn Essen als Ersatz für einen anderen Mangel diente, dann kletterten die Pfunde auf der Waage – so ist es auch bei vielen anderen Menschen mit Gewichtsproblemen.
Cut 17: Flaig
Also ich bin eher ein Typ, der zum Großteil aus Langeweile isst, oder hab gegessen, so muss ich sagen. Wenn ich halt arbeitslos daheim war, einfach zu viel freie Zeit hatte, dann habe ich gern gegessen. Und am Computer saß daheim, da ging nebenher wieder was. Sobald ich wieder Arbeit hatte und mehr gearbeitet hab, ging das Gewicht wieder bissel runter. Man lernt hier drüber nachzudenken und sich zu beobachten, warum man eigentlich mehr isst, warum man falsch isst, und dann kann man sich wieder darauf zurückbesinnen, wo es langgeht.
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[Sprecher:
Gerade bei Doc Weight sind auch Patienten dabei, bei denen es der letzte Versuch ist vor einer Operation. Viele haben den Glauben an sich und an eine Abnahme schon verloren, sagt die Ärztin.
Cut 18: Ritzmann-Widderich
Dann haben wir Psychologen dabei. Weil ich sag immer, je stärker man zunimmt, desto mehr kommt natürlich auch psychisch der Frust dazu und die Misserfolge, das heißt man glaubt schon oftmals gar nicht mehr an sich selber oder an irgendeine Methode, weil man schon viele probiert hat. Das heißt sie brauchen eine ganz starke psychologische Unterstützung. Nicht nur für den inneren Schweinehund, sondern eigentlich für die ganzen Vorbehalte und für die ganzen Blockaden, die man hat.]
Sprecher:
Die tatsächlichen Gewichtsabnahmen bei extrem übergewichtigen Menschen sind oft kleiner als die es sich wünschen. Aber schon fünf oder zehn Prozent Abnahme des Körpergewichts führen zu einer besseren Gesundheit, besseren diabetischen Werten und zum Rückgang des Bluthochdrucks. Doch nur die, die ihren Lebenswandel wie Claudia Flaig, Andrea Schacht und Regina von Eif umkrempeln können, haben Chancen, langfristig ihr Gewicht zu reduzieren. Nicht jeder schafft das. In dem Fall, meint Martin Wabitsch, sei es die Aufgabe von Adipösen, Friede mit sich zu schließen.
Atmo 6: Tagung Essen
Cut 19: Wabitsch
Ich muss aus diesem Teufelskreis, aus dieser Odyssee, die oft viele hinter sich haben oder durchmachen, muss ich rauskommen, indem, dass ich einfach mal einen Strich mache, zusammenzähle und schau, ja, was hab ich denn erreicht? Ich muss die Frage für mich beantworten: Können mir die Programme, die mir angeboten werden, wirklich helfen? Und das merk' ich relativ schnell. Und wenn ich feststelle, ja, das ist ein Weg – dann bitte ein Jahr lang daran arbeiten, bitte Krankenkasse bezahl das auch, ich werde einer der Erfolgreichen sein, werde mein Gewicht um 5 Prozent reduzieren, hab ein Vorteil beim Blutdruck, bei der Blutzuckerregulation, wunderbar. Und wenn ich feststelle, dass es kein Weg für mich ist, ich habe es aber versucht, dann habe ich ein gutes Gewissen und kann sagen, das ist nichts für mich, bei mir ist die Anlage, sind die Voraussetzungen einfach andere. Ich muss das jetzt, ich will das jetzt akzeptieren, ich bin übergewichtig, ich bin gut, ich bin ein guter Mensch, kein schlechter Mensch, kein fauler Mensch. Ich habe auch keine mangelnde Willensstärke. Und unsere Gesellschaft muss einfach fair mit mir umgehen. [Diskriminierung von Übergewichtigen ist in unserer Gesellschaft einfach tabu. Das darf in unserer Gesellschaft nicht mehr sein. Wir müssen da alle daraufhin arbeiten, dass wir diese Menschen, genauso wie Menschen, die andere Veränderungen am Körper haben, akzeptieren und sie so nehmen, wie sie sind.]
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