Burnout oder Selbstverwirklichung

<< SWR2 Wissen Aula - Professor Dr. med Joachim Bauer :
      Burnout oder Selbstverwirklichung . Was Arbeit mit uns machen kann >>

Autor und Sprecher: Professor Joachim Bauer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch,
Sendung: Sonntag, 29. Dezember 2013, 8.30 Uhr, SWR2
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Zum Autor:
Joachim Bauer, geb. 1951, studierte Medizin in Freiburg. Es folgte eine „Postdoc“-Zeit von 1980 bis 1982 als wissenschaftlicher Assistent am Biochemischen Institut der Universität Freiburg. Habilitation 1990. Er wechselte in die Abteilung Allgemeine Psychiatrie und folgte einem Ruf auf eine C3-Universitätsprofessur für Psychoneuroimmunologie. Er habilitierte ein zweites Mal, diesmal für das Fach Psychiatrie. Im Jahre 2000 wechselte Joachim Bauer in die Abteilung Psychosomatische Medizin, wo er bis heute als Oberarzt tätig ist und bis 2010 die Ambulanz der Abteilung leitete. Schwerpunkte seiner Arbeit sind klinische Aspekte der Depression, Angsterkrankungen, psychosomatische Erkrankungen, Trauma-Folgekrankheiten (Posttraumatische Belastungsstörung), Burnout-Syndrom. Bauer ist außerdem ausgebildeter Psychotherapeut.
Bücher (Auswahl):
- Arbeit - Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht.. Blessing Verlag, München. 2013.

– Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Blessing Verlag, München. 2011.
– Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren. Heyne Verlag. Aktualisierte Auflage 2008.
– Das kooperative Gen: Evolution als kreativer Prozess. Heyne Verlag. 2008.

ÜBERBLICK
Positiver oder negativer Stress? Eine sinnvolle Arbeit befriedigt uns, macht glücklich. Aber es geht auch anders - Arbeit kann zu Depressionen, Stress und Burnout führen, was viele Ursachen haben kann: Leistungsdruck, schlechte Bezahlung, Mobbing. Am schlimmsten ist es, wenn man von seiner Arbeit nicht leben kann oder wenn man überhaupt keine mehr hat. Professor Joachim Bauer, Psychosomatiker an der Uniklinik in Freiburg, analysiert die Doppelgesichtigkeit der Arbeit und ihre Wirkung auf die Psyche.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Burnout oder Selbstverwirklichung – Was Arbeit mit uns machen kann“.
Eine sinnvolle Arbeit befriedigt, macht glücklich, motiviert, aber es geht auch ganz anders: Ein autoritärer Chef nervt einen, schlechte Arbeitsbedingungen führen an den Rand der Erschöpfung, Multitasking erhöht die Nervosität, Mobbing führt zu Depression. Das sind zwei Seiten einer Medaille, und Professor Joachim Bauer, Psychosomatiker an der Uniklinik in Freiburg, beschreibt nun diese Doppelgesichtigkeit der Arbeit und ihre Wirkung auf die Psyche.
Joachim Bauer:
Die menschliche Arbeit ist, aus der Perspektive der Evolution betrachtet, noch keine sehr alte Erfindung. Zwar mussten Menschen seit jeher etwas für ihre Ernährung und Behausung tun, um ihr Überleben zu sichern. Einer Konvention folgend, bezeichnen wir die Tätigkeit unserer nicht sesshaften Jäger- und Sammlervorfahren jedoch nicht als „Arbeit“. Die Anfänge der Arbeit in dem Sinne, wie wir den Begriff heute verstehen, datieren auf den Beginn der Sesshaft-Werdung des Menschen und den damit verbundenen Eintritt des Menschen in die Zivilisation vor etwa 12.000 Jahren. Nachfolgend soll das Faszinosum der menschlichen Arbeit von verschiedenen Aspekten her beleuchtet werden. Im Zentrum wird die Frage stehen, welche Voraussetzungen –aus medizinischer Sicht- gegeben sein müssen, damit der Mensch an seiner Arbeit Freude haben kann. Umgekehrt soll dargestellt werden, welche arbeitsbedingte Faktoren das Risiko für Burnout und andere Gesundheitsstörungen begünstigen.
Werfen wir zunächst einen Blick zurück auf die Anfänge der menschlichen Arbeit. Die Sesshaft-Werdung des Menschen bedeutete, dass der Mensch begann, Abschied vom unsteten Leben als Jäger und Sammler zu nehmen und sich jetzt daran machte, Getreide anzubauen, Tiere zu domestizieren und feste Behausungen zu bauen. Mit der Sesshaft-Werdung einher ging nicht nur die „Erfindung“ des Eigentums an Grund und Boden, sondern auch die der Arbeit. Wer jetzt aufs Feld ging, wer Tierherden beaufsichtigte oder im Steinbruch Steine aus dem Boden brach und sie zu behauen hatte, der verrichtete zum ersten Mal das, was wir bis heute als „Arbeit“ bezeichnen. Mit der Arbeit sozusagen miterfunden war nun auch der Mensch als Arbeitskraft. Die Verwandlung von einem umher ziehenden Naturwesen, das der Mensch über Jahrhunderttausende gewesen war, in eine Arbeitskraft mit festem Wohnsitz, eröffnete völlig neue Dimensionen des Mensch-Seins.
Ein positiver Aspekt dieser Entwicklung war, dass der Mensch nun begann, seine Potentiale als Erfinder, Entdecker, Techniker und Problemlöser in einer zuvor nicht gekannten Dimension zu entfalten. Die Kehrseite dieser Entwicklung bestand darin, dass die Arbeit ein erhebliches Maß an sozialer Desintegration mit sich brachte. Die Zeiten, in denen man ganztags mit den Seinen im Verband umherziehen oder verweilen konnte, waren beendet. Hinzu kam, dass seine Verwandlung in eine potentielle Arbeitskraft den Menschen zu einer potentiellen Ware machte: Man konnte Menschen, um sie für sich arbeiten zu lassen, jetzt rauben und versklaven –
und genau das war es auch, was nun geschah – übrigens bis in die jüngste Vergangenheit hinein.
Ihr Doppelgesicht als Quelle der Potentialentfaltung einerseits, und andrerseits als Ursache für Entfremdung und Entwürdigung, dieses Doppelgesicht sollte das Kennzeichen der menschlichen Arbeit –bis zum heutigen Tage- bleiben. Im klassischen Griechenland und im alten Rom genoss die Arbeit kein hohes Ansehen, abgesehen von einigen Ausnahmen wie der Landwirtschaft, der ärztlichen Kunst, einem Engagement als Politiker oder als Soldat. Für Geld oder als unbezahlter Sklave etwas zu tun, was einem andere auftrugen, wurde als entwürdigend betrachtet. Auch das Handwerk war nicht geachtet, es galt im klassischen Altertum entweder als zu schmutzig oder als zu ungesund.
Ganz anders in der jüdisch-christlichen Tradition: Sowohl im Alten wie im Neuen Testament gilt jede ehrliche Arbeit als ehrenwert und gut. Die biblische Schöpfungsgeschichte, ein etwa 1.000 Jahre vor Christi Geburt niedergeschriebener Text, definiert die Arbeit einerseits als aussichtsreiches Angebot („Macht Euch die Erde untertan“), andrerseits als auferlegte Verpflichtung („Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“). Einige Jahrhunderte später verglich Jesus Christus, er war der Sohn eines Handwerkers, Menschen immer wieder einmal mit Arbeitern im Weinberg. Zugleich warnte er aber auch davor, sich in der ängstlichen Sorge um das Geldverdienen zu verlieren, wie seine berühmte, bei Matthäus nachzulesende Bemerkung zeigt: „Seht die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen und ihr himmlischer Vater nährt sie doch“.
Die Leit-Idee mönchischen Lebens, dessen Beginn auf das frühe Mittelalter datiert, war das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Muße, zwischen „Vita activa“ und „Vita contemplativa“. Allerdings blieb dem einfachen Volk für Muße oder Gebete das gesamte Mittelalter hindurch nur wenig oder keine Zeit. Außerhalb der Klostermauern leistete die einfache Bevölkerung, die fast ausschließlich aus leibeigenen Bauern bestand, tagtäglich harte Arbeit. Körperliche Arbeit war im Mittelalter –wie schon im klassischen Altertum- wenig respektiert. Dies sollte sich erst mit Beginn der vor 500 Jahren heraufziehenden Neuzeit fundamental ändern. Der menschlichen Arbeit wurde von nun an ein Wert zugeschrieben, ja mehr noch: sie wurde teilweise sogar zu einem Wert an sich erklärt. Die neuzeitliche Aufwertung der Arbeit, die sich -jedenfalls in fast allen industrialisierten Ländern- bis heute gehalten hat, sollte sich als eine durchaus zweischneidige, problematische Angelegenheit erweisen.
Den Anfang mit der neuzeitlichen Adelung der Arbeit machten die beiden Gründerväter des Protestantismus, Martin Luther und Johannes Calvin. Im Jahre 2017 werden wir das sogenannte „Lutherjahr“ begehen, denn dann wird es genau 500 Jahre her sein, seit Martin Luther seine 95 Thesen an die Schlosskirche von Wittenberg heftete. Was die Einschätzung der Arbeit betrifft, so war der Protestantismus der Geburtshelfer dessen, was wir heute als „Arbeitsmoral“ bezeichnen. Für Luther- und mehr noch für Calvin- war die Bereitschaft zur Arbeit Ausdruck einer gottgefälligen Haltung. Der Mensch, so formulierte Luther in einer Predigt des Jahres 1525, sei „zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen“. Die Anfang des letzten Jahrhunderts geäußerte Vermutung des Soziologen und Nationalökonomen Max Weber ist nicht ganz von der Hand zu weisen, die
protestantische Arbeitsmoral sei ein früher Vorläufer einer Lebenshaltung gewesen, die später dem Kapitalismus den Boden bereitet habe.
Das Lob der Arbeit wurde jedoch nicht nur vom Protestantismus, sondern später auch von Vertretern des deutschen Idealismus, und schließlich auch von den Führungsfiguren der Arbeiterbewegung gesungen. Für Friedrich Schiller war die Arbeit „des Bürgers Zierde“. Auch Immanuel Kant war vom moralischen Wert der Arbeit überzeugt. Karl Marx sah die menschliche Arbeit nicht nur als „ewige Naturnotwendigkeit“, er sah den „Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit“. Das sozialdemokratische „Gothaer Programm“ von 1875 formulierte eine „allgemeine Arbeitspflicht“. Lenin, der Gründer der Sowjetunion, formulierte als, wie er es nannte, „sozialistisches Prinzip“, den berühmt gewordenen Satz: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ – ein Statement, das sich fast wortgleich, zweitausend Jahre früher, übrigens bereits beim Apostel Paulus findet.
Wir erkennen ein Dilemma: Einerseits verdient die menschliche Arbeit Anerkennung und Wertschätzung, weil sie alleine es ist, die unserer Spezies auf unserem übervölkerten Globus mit seinen begrenzten Ressourcen das Überleben sichert. Andrerseits besteht die Gefahr, mit der Wertschätzung der Arbeit sozusagen über das Ziel hinauszuschießen, die Arbeit zu überhöhen und sie zum Selbstzweck zu erklären. Nicht arbeiten zu dürfen oder keine Würdigung geleisteter Arbeit zu erfahren, kann einen Menschen krank werden lassen. Krank kann es den Menschen aber auch machen, wenn die Arbeit zum Selbstzweck oder zum Suchtmittel geworden ist. Warum das aus medizinischer Sicht so ist, möchte ich nachfolgend ausführen.
Grundlage für die Fähigkeit und die Bereitschaft eines Menschen zu arbeiten sind Vitalität, Lebensfreude und Motivation. Die Voraussetzung für Motivation und Anstrengungsbereitschaft ist, dass das sogenannte Motivationssystem des menschlichen Gehirns aktiv wird und seine Motivationsbotenstoffe freisetzt. Zu einer Aktivierung seines Motivationssystems kommt es, wie Untersuchungen zeigen, vor allem dann, wenn ein Mensch von anderen Beachtung und Wertschätzung erhält. Das Gehirn macht sozusagen aus Psychologie Biologie. Weil die soziale Akzeptanz, die wir von anderen erfahren, die Ausschüttung von Motivationsbotenstoffen nach sich zieht, haben die meisten Menschen ein natürliches Bedürfnis, sich nützlich zu machen.
Psychisch halbwegs gesunde Menschen wollen -nicht etwa weil eine Moral es vorschreibt sondern weil wir biologisch so konstruiert sind- sich gerne nützlich machen. Die Arbeit ist nicht die einzige, aber eine hervorragende Möglichkeit, sich nützlich zu machen. Wenn unsere Motivationssysteme vorübergehend schwächeln, was jedem immer wieder einmal widerfährt, dann haben wir eben einen schlechten Tag und keine rechte Lust, etwas anzupacken. Menschen, deren Motivationssystem aber über längere Zeit inaktiv brach liegt, haben jedoch ein erhöhtes Risiko krank zu werden, insbesondere eine Depression oder psychosomatische Störungen zu erleiden. Nicht zufällig finden sich unter arbeitslosen Menschen, die ja keine Möglichkeit haben, sich durch Arbeit nützlich zu machen, die höchsten Depressionsraten.

Einfach nur irgendeine Arbeit zu haben, bedeutet jedoch keineswegs, eine Garantie für Gesundheit zu besitzen. Eine Gesundheitsdroge ist die Arbeit nur dort, wo am Arbeitsplatz eine Balance zwischen Verausgabung und Anerkennung besteht, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Wertschätzung und Anerkennung erhalten, sei es von ihren Vorgesetzten, sei es von Kollegen oder von ihren Kunden. Eine besondere Rolle spielen die Vorgesetzten. An ihnen liegt es, ob am Arbeitsplatz eine freundliche Atmosphäre herrscht. Wichtig ist vor allem, dass sie hinschauen was ihre Mitarbeiter leisten und ihnen Rückmeldungen geben. Vorgesetzte spielen auch eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, ob Kolleginnen und Kollegen kollegial miteinander umgehen oder nur gegeneinander konkurrieren, sich bei Schwierigkeiten im Stich lassen oder sich gegenseitig denunzieren. In Betrieben mit einem andauernd schlechten Betriebsklima gehen nicht nur die Krankenstände hoch. Auch die Fluktuation ist hier höher.
In den letzten Jahren massiv zugenommen hat die Zahl von Unternehmen, in denen vom der Unternehmensspitze ein ständiger massiver Druck nach unten ausgeübt wird. Dieser Druck äußert sich vor allem in ständigen Umstrukturierungen sowie Entlassungen der festen Belegschaft mit nachfolgender Neueinstellung von sozial weniger gut abgesicherten Arbeitskräften. Auch wenn sie aus unternehmerischer Sicht oft wenig oder keinen Sinn machen, werden viele Unternehmensvorstände vonseiten der Kapitalanleger zu fortwährenden Umstrukturierungen gezwungen, weil Umstrukturierungen Eindruck auf die Börsen machen und dort die Kurse nach oben treiben. Da die Vorstände oder Geschäftsführer in öffentlichen Unternehmen nicht als rückständig gelten wollen, hält die Praxis der ständigen Umstrukturierungen zunehmend auch im öffentlichen Sektor Einzug.
Wenn Menschen arbeiten, ist nicht nur das bereits erwähnte Motivationssystem im Spiel, sondern auch das sogenannte Stresssystem. Es tritt immer dann in Aktion, wenn sich der Mensch Anforderungen gegenüber sieht, die ihm erhöhte körperliche oder geistige Anstrengung abverlangen. Der Gesundheit zuträglich sind, wie Studien zeigen, Arbeitsaufgaben, die sich bewältigen lassen und bei denen den Beschäftigten nicht die Kontrolle über das Geschehen entgleitet. Dies setzt voraus, dass Arbeitende hinreichend ausgebildet sind, dass sich die Arbeitsmenge im Rahmen des Leistbaren hält und dass Erwerbstätige auf die Einteilung und, soweit möglich, auch auf die Art der Erledigung ihrer Arbeit Einfluss nehmen können.
Damit blicken wir nunmehr auf zwei Gleichgewichte, die einen bedeutsamen Einfluss auf Gesundheit oder Krankheit am Arbeitsplatz haben: Das eine Gleichgewicht betrifft die bereits erwähnte Balance zwischen Verausgabung und Anerkennung. Das zweite Gleichgewicht betrifft die Balance zwischen dem was geleistet werden soll und der Möglichkeit, dass die Beschäftigten das Gefühl der Kontrolle über die Arbeitsabläufe behalten. Diese beiden Gleichgewichte entscheiden darüber, ob das körpereigene Stresssystem gesunden oder krankmachenden Stress produziert. Beim gesunden Stress spürt die Arbeitnehmerin und der Arbeitnehmer: Wenn ich mich konzentriere und mein Können voll einbringe, kann ich das, was mir als Aufgabe gestellt ist, auch bewältigen, und die Anstrengungen, denen ich mich unterziehe, werden gesehen und anerkannt. Beim krank machenden Stress haben Erwerbstätige das andauernde Gefühl, dass sie das, was man von ihnen verlangt, eigentlich nicht leisten können, ohne irgendwann erschöpft zusammenzubrechen.
Lassen Sie uns noch auf ein weiteres neurobiologisches System blicken, welches immer dann gefordert ist wenn Menschen Multi-Tasking-Aufgaben zu erledigen haben. Multitasking bedeutet, dass am Arbeitsplatz mehrere Dinge gleichzeitig unter Kontrolle gehalten oder erledigt werden müssen. Multitasking erfordert es, dass unsere Aufmerksamkeit nicht fokussiert und vertieft auf eine Sache gerichtet, sondern breit gestreut und daher oberflächlich ist. Multitasking und flache, breit gestreute Aufmerksamkeit sind Fähigkeiten, die zum Leben in der Wildnis gehörte. Sich fokussiert auf eine Sache zu konzentrieren, ist eine Kompetenz, die erst gefordert ist, seit Menschen Kulturleistungen erbringen. Technische Lösungen oder Entdeckungen haben in der Regel konzentriertes Nachdenken zur Voraussetzung. Wessen Gehirn sich permanent sozusagen im Aufmerksamkeits-Defizit-Modus befindet, der oder die macht vermutlich weder technischen Erfindungen noch entwickelt er oder sie philosophischen Gedanken, schreibt keine Gedichte und komponiert keine Lieder.
Erst vor etwa fünfzehn Jahren erkannte die Hirnforschung ein System, welches nur dann aktiv ist, wenn wir eine breit gestreute, flache Aufmerksamkeit praktizieren. Dieses System trägt den Namen „Default Mode Network“. Durch Untersuchungen eindeutig bewiesen ist, dass sich bei Menschen, die intensives und lange dauerndes Multitasking praktizieren, die Fähigkeit verschlechtert, Probleme zu lösen, die ein hohes Maß an fokussierter Aufmerksamkeit erfordern. Dazu passen Beobachtungen, die zeigen dass jedes Mal dann, wenn Testpersonen bei einer Konzentrationsaufgabe ein Fehler unterlaufen ist, sich kurz zuvor eine erhöhte Aktivität des „Default Mode Network“ nachweisen ließ. Multitasking und konzentriertes Arbeiten sind Aktivitäten, die sich gegenseitig behindern. Multitasking war immer ein Teil des Lebens und wird es bleiben. Doch eine erstrebenswerte Form des Arbeitens ist es nicht. Es sollte am Arbeitsplatz auf das Unvermeidliche begrenzt sein. Das Ziel sollte sein, sich möglichst oft nur einer Aufgabe zu einer Zeit zu widmen.
Immer mehr Menschen erleben es als eine Qual, dass uns das moderne Leben nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im Privatleben immer mehr in Zustände von breiter, flacher Aufmerksamkeit hineinbringt. Dies hat vor allem mit der Zunahme an Medien- bzw. Kommunikationsangeboten zu tun. Immer mehr Menschen haben das Bedürfnis, der permanenten Zerstreuung etwas entgegenzusetzen, was ihnen die innere Ruhe zurückbringt. Dies ist der Grund für die in allen westlichen Ländern beobachtbare Nachfrage nach der sogenannten Achtsamkeits-Meditation. Die Praxis der Achtsamkeits-Meditation wird in der Fachliteratur als „Mindfulness-Based Stress Reduction“, abgekürzt MBSR bezeichnet. Die Achtsamkeits-Meditation bietet die Möglichkeit, in einer kleinen Übungsgruppe, unter Anleitung einer Achtsamkeits-Lehrerin oder eines -Lehrers, in einen Zustand ruhiger, konzentrierter Aufmerksamkeit zu kommen. In einem von mir selbst, zusammen mit Juniorprofessor Stefan Schmidt geleiteten, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Projekt untersuchen wir derzeit, inwieweit die Achtsamkeits-Meditation Schülern der gymnasialen Oberstufe und ihren Lehrkräften eine Hilfe sein kann, besser mit Stress umzugehen. Dieses spannende Projekt ist Teil eines Anfang 2013 an der Universität Freiburg eingerichteten Sonderforschungsbereiches, der das Thema „Muße“ auf seine Fahnen geschrieben hat.
Der Druck an den Arbeitsplätzen hat in den letzten 20 Jahren signifikant zugenommen. Kennzeichen der modernen Arbeitswelt sind mentale, also psychische Belastungen. Die Gründe dafür sind beschleunigte Arbeitsabläufe, Zeitdruck, Verdichtung der Arbeit, der Umgang mit großen Mengen an Information, ständige Unterbrechungen der Arbeit und -in vielen Berufen- die anspruchsvolle Aufgabe, mit nicht immer einfachen Kunden, Klienten oder Schülern zu kommunizieren und diese möglichst gut zufriedenzustellen. Mehr als ein Drittel aller Erwerbstätigen gibt an, den derzeit ausgeübten Beruf nicht bis zur Rente durchhalten zu können. Ein Drittel der Beschäftigten kann abends nach der Arbeit nicht abschalten. Ein Viertel aller Erwerbstätigen fühlt sich chronisch erschöpft, jeder fünfte fühlt sich von seiner Arbeit total überfordert. Psychische Gesundheitsstörungen stehen mit 42% derzeit an der Spitze der Erkrankungen, derentwegen Menschen vorzeitig aus dem Arbeitsleben in den Vorruhestand ausscheiden.
Vor dem Hintergrund dieser Zahlen wird verständlich, warum das „Burnout-Syndrom“ in den letzten Jahren derart Furore gemacht hat. Der Begriff des „Burnout-Syndroms“ wurde und wird allerdings oft falsch gebraucht. Nicht jede Erschöpfung ist ein „Burnout-Syndrom“. Erschöpft zu sein ist eine völlig normale Reaktion auf starke Belastungen. Die bloße Erschöpfung ist ein Zustand, der sich durch die Möglichkeit zur Erholung wieder beheben lässt. Ein „Burnout-Syndrom“ ist mehr als eine Erschöpfung. Das Burnout-Syndrom ist eine länger dauernde, auf den Arbeitsplatz bezogene und durch einfache Erholungsmaßnahmen nicht zu behebende Störung der Motivation und der Leistungsfähigkeit. Kennzeichen des Burnout-Syndroms sind, zusätzlich zu einer verloren gegangene Fähigkeit zur Regeneration, Ineffektivität am Arbeitsplatz und ein vorher nicht vorhandener, unbezwingbarer innerer Widerwille gegen die Arbeit. Burnout-Betroffene sind typischer Weise Berufstätige, die ihrer Arbeit jahrelang mit Freude und hohem Engagement nachgegangen sind. Mit Einsetzen des Burnout-Syndroms stellen die Betroffenen fest, dass sie, im Vergleich zu früher, schleichend immer mehr Zeit benötigen, um ihre Arbeit zu erledigen. Ein weiteres Merkmal des Burnout-Syndroms ist, dass Berufstätige, die jahrelang hoch engagiert und ihrer Kundschaft zugetan waren, in sich plötzlich eine zynische, widerwillige Haltung feststellen.
Ebenso wie die ganz normale Erschöpfung vom Burnout-Syndrom unterschieden werden sollte, so muss das Burnout-Syndrom seinerseits von einer Depression abgegrenzt werden. Beim Burnout-Syndrom handelt es sich um eine auf den Arbeitsplatz bezogene Störung von Motivation und Leistungsfähigkeit. Demgegenüber ist die Depression eine Erkrankung, die den ganzen Menschen und sämtliche Lebensbereiche betrifft. Typische Kennzeichen der Depression sind ein Verlust der Lebensfreude, der Verlust des Selbstwertgefühls, Störungen des Antriebes und der Konzentration, Schlafstörungen und Gedanken, aus dem Leben zu scheiden. Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Mehrheit derer, die von einem Burnout-Syndrom betroffen sind, nicht an einer Depression leiden. Da das Burnout-Syndrom allerdings eine Vorstufe auf dem Wege hin zu einer Depression sein kann, sollte es ernst genommen und nicht bagatellisiert werden.
Die wichtigste vorbeugende Maßnahme gegen das Burnout-Syndrom sind Arbeitsplätze, die erwerbstätigen Menschen zumutbare Arbeit bieten, an denen frei von permanentem hohem Zeitdruck gearbeitet werden kann, an denen ein gutes kollegiales Klima herrscht, an denen Vorgesetzte ihren Mitarbeitern Rückmeldungen
geben und gute Leistungen mit Anerkennung und Wertschätzung quittieren. Psychopharmaka können im Falle einer schweren Depression durchaus einmal angezeigt sein, aber gute Arbeitsbedingungen können sie nicht ersetzen.
Die menschliche Arbeit ist eine gewaltige positive Ressource. Sie kann ein Betätigungsfeld unserer Neugier, unserer Entdeckerfreude und unserer Kreativität sein. Sie kann dem Menschen nicht nur die Wertschätzung und Anerkennung anderer einbringen, sondern auch uns selbst mit Stolz auf das Geleistete erfüllen. Die Arbeit kann, wenn sie sich in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang einfügt, ein Teil der Identität eines Menschen sein. Neben diesen Chancen birgt die Arbeit allerdings auch eine Reihe von ernst zu nehmenden Risiken, vor allem solche welche die Gesundheit betreffen. Nicht nur schlecht bezahlte oder krank machende Arbeit, auch die Arbeitslosigkeit beschädigt die Würde des Menschen. Die mit Abstand wichtigste Ursache für langwährende Arbeitslosigkeit sind fehlende Schulabschlüsse oder eine fehlende berufliche Qualifizierung. Die Statistiken belegen einen geradezu gnadenlosen Zusammenhang zwischen schulischer und beruflicher Bildung einerseits und andrerseits der Chance, später nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern vor allem gute Arbeit zu finden.
Abschließend sollte nicht aus dem Blickfeld geraten, dass die Arbeit, bei aller Wertschätzung, nicht der einzige Inhalt unseres Daseins ist, der das Leben lebenswert macht. Nicht nur der Bildschirm, der Alkohol und Nikotin, auch die Arbeit besitzt ein Suchtpotential. Sie kann den Blick auf das Leben einengen und Menschen vergessen lassen, was im Leben, neben der Arbeit, einen mindestens gleichwertigen Rang einnehmen sollte, nämlich die Muße, die Musik, die Literatur, das Erleben der Natur, die Freude an der Bewegung, das Gespräch und das zwecklose Zusammensein mit Menschen, die wir lieben.

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