Habermas & Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Kurz: Viel ! (IWM* & Kultur-Punkt)

 

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Habermas & Taylor: "Nobelpreis der Philosophie"

Demokratie jetzt?! - Habermas & Taylor
Habermas & Taylor: Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Kurz: Viel ! (IWM* & Kultur-Punkt)

Jürgen Habermas und der kanadische Sozialphilosoph Charles Taylor befassen sich beide mit wichtigen Fragen der politischen Philosophie. Nun bekommen beide den Kluge Prize - und 1,5 Millionen US-Dollar.
Ständig wandelt sich die moderne Welt, und nichts bietet Halt. Mit genau dieser unzuverlässigen Moderne im Umbruch befassen sich Jürgen Habermas und der kanadische Philosoph Charles Taylor. Im September bekommen sie dafür den "Nobelpreis der Philosophie" verliehen.

Jürgen Habermas
und seine 'Theorie des kommunikativen Handelns'
Habermas, geboren 1929 in Düsseldorf, studierte in Göttingen und Bonn und forschte ab 1956 am Frankfurter Institut für Sozialforschung – der neulinken Denkfabrik, die auch die Proteste der 68er inspirieren sollte. Sein Lebenswerk dreht sich vor allem um den öffentlichen Raum: Darin findet laut Habermas vernunftgeleitete Kommunikation statt, die die Gesellschaft zusammenhält.

Charles Taylor,
und seine Forderung nach 'aktiver Einbindung jedes Einzelnen in sein soziales Netz'.
der kanadische Philosoph, mit dem sich Habermas den Preis teilt, geht noch einen Schritt weiter: Es bedarf nicht bloß des Redens sondern einer aktiven Einbindung jedes Einzelnen in sein soziales Netz. In der "haltlosen Moderne" warnt Taylor vor dem "Mangel an gemeinsam gelebter Humanität."
Die Theorien beider Philosophen brächten ein "eindringliches Verständnis des Einzelnen und seiner sozialen Bindungen," würdigte James H. Billington, Chefbibliothekar der Library of Congress, Habermas und Taylor in der Laudatio. Doch nicht nur für ihre Thesen bekommen sie den Preis.

Jenseits des Elfenbeinturms
Billington lobte beide Philosophen für ihre "politischen und moralischen Perspektiven mit philosophischer Tiefe." Charles Taylor machte sich 1975 einen Namen mit einer 800-Seitigen Abhandlung zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Dennoch schaffte er es stets, "über Selbstbestimmung, Freiheit, Spiritualität und die Verbindung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft auch für Laien verständlich zu schreiben," so das Lob Billingtons. Taylor kandidierte auch mehrfach für die sozialdemokratische New Democratic Party in Kanada – und scheut die öffentliche Einmischung nicht.

Deutschland Philosophie Jürgen Habermas Frankfurter Schule 
Habermas während des Adorno-Kongresses an der Universität Frankfurt 1983
Habermas bringt sich gern in den öffentlichen Diskurs ein, den er beschworen hat. Theodor Adorno, Habermas' philosophischer Ziehvater, sagte einmal von sich, er habe keine Angst vor dem Elfenbeinturm – der Denker müsse sich in das Refugium der abgehobenen Distanz zurückziehen können. Habermas forschte unter Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung, doch er verließ oft genug den Elfenbeinturm und mischte sich in das Tagesgeschäft der Politik ein.
1999 verteidigte er den umstrittenen NATO-Einsatz im Kosovokrieg mit den Worten: "Wenn es gar nicht anders geht, müssen demokratische Nachbarn zur völkerrechtlich legitimierten Nothilfe eilen dürfen." Obwohl er Verteidiger der europäischen Integration ist, erinnert Habermas an die Demokratiedefizite der EU. Sein Engagement beeindruckte das Kluge Centre in Washington. Im September wird der Preis an die beiden politischen Denker vergeben.
ct/pj (dpa)

http://www.dw.com/de/nobelpreis-der-philosophie-f%C3%BCr-habermas/a-18641889

Das Protagonisten-Team, biografisch:
Jürgen Habermas
(* 18. Juni 1929 in Düsseldorf) ist ein deutscher emeritierter Professor, der zu den weltweit meistrezipierten Philosophen und Soziologen der Gegenwart zählt. In der philosophischen Fachwelt wurde er bekannt durch Arbeiten zur Sozialphilosophie mit diskurs-, handlungs- und rationalitätstheoretischen Beiträgen, mit denen er die Kritische Theorie auf einer neuen Basis weiterführte. Für Habermas bilden kommunikative Interaktionen, in denen rationale Geltungsgründe erhoben und anerkannt werden, die Grundlage der Gesellschaft...
https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Habermas
Charles Taylor,
CC, FRSC (* 5. November 1931 in Montreal) ist ein kanadischer Politikwissenschaftler und Philosoph. Er wird dem Kommunitarismus zugerechnet.
Themen von Taylors Forschung sind Moralphilosophie, Liberalismus, das Konzept der multikulturellen Gesellschaft und zuletzt auch Religionsphilosophie. In seinem Hauptwerk Quellen des Selbst versucht Taylor die für das Selbst- und Weltverständnis konstitutiven moralischen Quellen der Neuzeit zu rekonstruieren, deren Leugnung er für die Fehlentwicklungen der Moderne verantwortlich macht und die deshalb zurückgewonnen werden müsstenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Taylor_(Philosoph)

Das John W. Kluge Center an der Washingtoner Library of Congress
vergibt den Kluge Prize seit 2003, um Denker außerhalb der Disziplinen des Nobelpreises zu fördern. Zu den Preisträgern gehören die indische Historikerin Romila Thapar, der französische Philosoph Paul Ricoeur und Brasiliens ehemaliger Präsident Fernando Henrique Cardoso. "Fördern" ist dabei keine Übertreibung: Die Preisträger bekommen 1,5 Millionen Dollar – mehr als Nobelpreis-Gewinner. Und das Preisgeld hat seinen Ursprung im deutschen Chemnitz.
John Kluge: vom Schuhverkäufer zum Investor zum Mäzen
John W. Kluge wuchs als Johann Kluge in Chemnitz als Sohn eines Ingenieurs auf. Nachdem sein Vater im Ersten Weltkrieg gefallen war, heiratete seine Mutter einen Deutsch-Amerikaner und zog mit ihrem Sohn nach Detroit. Aus Johann wurde John.
Kluge arbeitete sich vom Schuhverkäufer bis in die Chefetagen hinauf. Als Geschäftsmann investierte er später in die Nahrungsmittelindustrie und in Medienunternehmen. Zahlreiche Fernseh- und Radiostationen gehörten seinem Unternehmen Metromedia an – später teilweise aufgekauft von Medienmogul Rupert Murdoch. In den Neunzigern tat sich Kluge als Mäzen hervor. Im Jahr 2000 spendete er schließlich 60 Millionen US-Dollar an die Library of Congress. Einen Teil davon teilen sich bald Jürgen Habermas und Charles Taylor.

***
Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie?
 Charles Taylor 
I
Im Folgenden möchte ich über die Voraussetzungen der Demokratie am Ende des 20. Jahrhunderts nachdenken. Gleichzeitig möchte ich im Zuge dieser Überlegungen danach fragen, was wir heute unter dem Begriff “Demokratie” verstehen.
Zuvor aber einige Bemerkungen über die zentrale Bedeutung der Demokratie für unsere Zeit. Die Demokratie ist zu einer Norm geworden, der sich niemand mehr verweigern kann. Es gibt eine Art Demokratisierungsdruck, der für alle Gesellschaften gilt, auch wenn dieser Trend in vielen Teilen der Welt blockiert ist oder die Bewegung sogar rückwärts verläuft.
Letzten Endes hängt dies mit der Frage zusammen, was heute als politische Legitimation akzeptiert wird. Die letzten Herrschaftssysteme, die auf Hierarchie oder vererbter Autorität beruhen, sind verschwunden. Die Welle der faschistischen und rechts-autoritären Regime vor dem Zweiten Weltkrieg repräsentierte die letzte ideologische Alternative zur Demokratie. Seitdem müssen sich alle Regierungsformen als Demokratien legitimieren. Auch die kommunistischen Regime beanspruchten, eine radikalere Demokratie zu besitzen als die bürgerlichen Gesellschaften. Und wo es heute noch autoritäre Regime gibt, behaupten sie, die Gesellschaft zur Demokratie zurückzuführen, sobald sie dazu “bereit” sei. Kurz, es ist heute einzig die Demokratie, die politische Legitimität liefert. Vielleicht ist all dies nur Ausdruck der heute geltenden Formen obligatorischer Heuchelei. Dennoch glaube ich, dass die zunehmende Verpflichtung zur Demokratie tiefere Gründe hat.
Um dies besser zu verstehen, müssen wir festhalten, dass die Demokratie und die zentralen Ideale des liberalen Kanons – Freiheit der Person und Rechtsstaatlichkeit – eine enge Verbindung eingegangen sind und sich gegenseitig stützen. Die Liberalen haben stets behauptet, dass beide einander bedingen, doch war dies keineswegs immer der Fall. Im 18. Jahrhundert, dem goldenen Zeitalter des Despotismus, gab es Regierungsformen, die das Recht respektierten und in denen zumindest die führenden Schichten Schutz genossen, in denen aber nicht einmal für sie eine Möglichkeit vorgesehen war, sich an den Regierungsgeschäften zu beteiligen.
Mit dem Zerfall hierarchischer Formen samt der entsprechenden klaren Grenzen zwischen den Klassen schwanden die Bedingungen, denen sich diese Despotien verdankten. Seitdem gibt es keine unüberwindliche Schranke mehr, die ein despotisches Regime davon abhalten könnte, die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen zu begehen. Die einzige Garantie für Freiheit der Person und Wahrung des Rechts bietet die Demokratie oder zumindest die Aussicht, dass sie in absehbarer Zeit eingerichtet wird. Umgekehrt sind Freiheit der Person und Rechtsstaatlichkeit offensichtlich Bedingungen einer echten Demokratie, d.h. einer politische Form, unter der sich die Menschen unabhängig von der herrschenden Macht organisieren können, um sie abzulösen oder eine andere Politik zu erzwingen. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gehören zusammen.

II
Was ist eine Demokratie, und was macht sie lebensfähig und lebendig? Natürlich kann man Demokratie stets als ein Bündel bestimmter institutioneller Merkmale definieren, wie etwa die Existenz repräsentativer, durch Abstimmung gewählter Versammlungen oder der Parteienpluralismus. Aber ganz abgesehen davon, dass wohl keine Liste solcher Merkmale unumstritten sein dürfte, fehlt dieser Definition etwas Wesentliches. Sie beantwortet nicht die Frage, in welchem spezifischen Verhältnis die Bürger eines demokratischen Gemeinwesens zueinander stehen. Im Folgenden will ich versuchen, den realen politischen Prozess besser zu verstehen, der die Demokratie auszeichnet, aber auch die Art und Weise, wie er die an ihm Beteiligten zueinander in Beziehung setzt.
Es gibt eine ganze Reihe von Theorien, die bereits Erklärungen anbieten. Ich möchte hier nur zwei erwähnen, die weitverbreitet und beliebt, meiner Ansicht nach aber falsch und in verhängnisvoller Weise irreführend sind. Danach möchte ich eine dritte Theorie vorschlagen. Natürlich kann keine Theorie eine komplexe Wirklichkeit wie das demokratische Gemeinwesen jemals erschöpfend erklären. Und jede Theorie, auch die schlechteste, wird auf irgendeinen Aspekt dieser Wirklichkeit zutreffen. Einige Theorien schließlich machen den Fehler, Aspekte der Demokratie mit ihrem Wesen zu verwechseln.
Hier von einzelnen “Theorien” zu sprechen, ist eine Vereinfachung. Auch wenn ich zuweilen den Singular benutze, meine ich jeweils eine Familie von Theorien, die sich auf ähnliche Grundvorstellungen stützen.

1. Die erste, unzutreffende, Theorie ist in der amerikanischen Politologie bis heute sehr geläufig. Ihre Hauptwurzeln liegen in der ökonomisch argumentierenden Demokratietheorie, wie sie zuerst von Schumpeter formuliert wurde.[2] Die Theorien Lockes und Hobbes’ und deren Fortführung durch die Aufklärer des 18. Jahrhunderts bilden eine weitere Quelle.
Zentral für diese erste Demokratietheorie (ich nenne sie im folgenden auch “ökonomische Theorie”), die ich hier diskutieren möchte, ist die Vorstellung, dass die politische Form der Gesellschaft ein von der Gemeinschaft in Anspruch genommenes Instrumentarium ist, das den Zielsetzungen ihrer Mitglieder, seien es Individuen oder Gruppen, unterworfen ist. Ziele und Zwecke werden dabei grundsätzlich, ja, man kann sagen ontologisch, als solche von Individuen verstanden. Gruppenziele sind insofern Resultat einer Konvergenz von individuellen Zielen. Ein Gemeinschaftsziel kann immer auf seine individuellen Komponenten zurückgerechnet werden.
Eine Demokratie zeichnet sich demnach dadurch aus, dass sie in der Lage ist, auf die Zielsetzungen und Wünsche ihrer Mitglieder einzugehen. Da aber jegliche Form politischer Herrschaft auf irgendjemandes Wünsche eingeht, und seien es nur die des Despoten, können wir die Stärke des demokratischen Systems als Gerechtigkeit fassen: Ideal gesprochen, gilt hier der Wunsch jedes einzelnen gleichviel. Ein weiterer wichtiger Vorzug der Demokratie besteht darin, dass sie nicht nur gerecht ist, sondern den Bedürfnissen und Zielsetzungen der Menschen auch gerecht wird. Dabei kann der Anspruch auf Wirksamkeit mit dem auf Gerechtigkeit in Widerspruch geraten. Für die beste Methode, die Vorzüge der Demokratie in die politische Wirklichkeit umzusetzen, gelten regelmäßige Wahlen zum Parlament und zu Regierungsämtern unter den Bedingungen des Parteienpluralismus, kurz Prozeduren und Institutionen, die wir gemeinhin mit Demokratie assoziieren.
Offensichtlich korrespondiert dieses Bild mit einigen Merkmalen moderner hochindustrialisierter und bürokratisierter politischer Gemeinwesen. Und tatsächlich haben viele, die mit dieser Theorie konfrontiert werden, den Eindruck, dass sie der Erfahrung im Vergleich zu anderen Theorien am besten entspricht. Der Erfahrung von Bürgern einer unübersichtlich gewordenen, bürokratisch verwalteten Gesellschaft, die sich nur minimal mit ihr identifizieren. Sie haben aber ihre eigenen Lebenspläne und nehmen das in ihren Augen allen zustehende Recht in Anspruch, sie zu verwirklichen und dabei auch Unterstützung zu finden (oder zumindest nicht daran gehindert zu werden). Von der Regierung fordern sie, dass sie als wirksames und faires kollektives Instrument handelt. Die Ansprüche ähneln den Erwartungen, die man einem Geschäftspartner gegenüber hegt, genauer gesagt, gegenüber einer Gruppe konkurrierender Unternehmen, die es erlaubt, bei Nichtgefallen den Partner zu wechseln. Von dieser Analogie macht Schumpeter Gebrauch, wenn er den Kampf der Parteien um die Gunst des Wählers nach dem Muster von Firmen interpretiert, die um Konsumenten werben.
Dieses Modell der Demokratie vernachlässigt gerade das, was von jeher als die Tugend und Würde des Bürgers, als “Bürgerschaft” (citizenship) angesehen wurde: dass Menschen sich aktiv an der Regierung ihres Gemeinwesens beteiligen, dass sie sich in gewisser Weise selbst regieren. Der ökonomische Blick übersieht dieses Prinzip der Partizipation allerdings weniger, als dass er es mit Argwohn betrachtet. Zwar konzediert auch er den Bürgern ein gewisses Maß an Einfluss, um zu gewährleisten, dass das System ihren Ansprüchen entspricht; dazu gehören allgemeines Stimmrecht und die Möglichkeit, neue Parteien oder Bewegungen zu gründen, wenn wichtige Ziele bei den alten keine hinreichende Unterstützung finden. Eine darüber hinausgehende Aktivität der Bürger – etwa dass sie sich unmittelbar an politischen Entscheidungen beteiligten – ist allerdings keineswegs erforderlich. Es reicht, dass sie durch die Macht, ihre Regierung zu wechseln, eine glaubhafte Bedrohung für alle Politiker darstellen, die den Kontakt zu den Wünschen ihrer Wähler verlieren.

Eine intensivere Partizipation, so die Argumentation, wäre kontraproduktiv, wenn nicht geradezu gefährlich. Kontraproduktiv, weil die Wahrnehmung von Regierungsgeschäften heute ein beträchtliches Fachwissen voraussetzt. Man überlässt sie daher besser den Experten bzw. Leuten, die eine besondere Fähigkeit und Erfahrung haben, sich des Expertenwissens zu bedienen, also den professionellen Politikern. Wenn sich hier jeder Bürger einmischen könnte, so würde das die Effizienz der Politik beträchtlich senken; es käme zu Enttäuschung und Legitimitätsverlust, was sogar gefährlich werden kann. Die Mobilisierung der Massen zwecks Druckausübung auf die Regierung kann aber auch unmittelbar gefährlich sein. Sie könnte die empfindliche Balance zerstören, die die Regierung finden muss, wenn sie den unterschiedlichen Interessen gerecht werden will, und dies wäre eine Gefahr für das ganze Gemeinwesen.
Es gibt eine ganze Reihe von Argumenten gegen diese Theorie. Von links kam die Kritik, dass das System die verschiedenen Interessen nicht so gleich und umfassend berücksichtigt, wie es seine Befürworter behaupten. In der Tat können sich nicht alle Interessengruppen in gleichem Maße geltend machen. Manche werden systematisch benachteiligt und finden nur schwer Gehör bei den Politikern, wie etwa unterprivilegierte ethnische oder sprachliche Minderheiten.
Zweifellos spricht einiges für diese Argumente, doch berühren sie nicht das, worum es mir hier geht: um die Grundvoraussetzungen des demokratischen Gemeinwesens. Würde es seinem Anspruch genügen, wenn es allen Interessen gleichermaßen gerecht und damit vollkommen verwirklicht würde? Ich glaube nicht. Mein Argument ist nicht einfach, dass Partizipation und die damit gegebene Würde ein bedeutendes menschliches Gut darstellen. Dem könnte die ökonomische Theorie leicht entgegenhalten, dass sie zwar im Prinzip damit übereinstimme, dass Partizipation über ein gewisses Maß hinaus aber nicht praktikabel sei.
Mir geht es um etwas Grundlegenderes. Die ökonomische Theorie ignoriert das zentrale Anliegen der gesamten bürgerlich-humanistischen Tradition: dass nämlich jede freie (d.h. nichtdespotische) Regierungsform einer starken Identifikation von Seiten ihrer Bürger bedarf – etwas,  das Montesquieu vertu nannte. Die Bürger müssen die Pflichten auf sich nehmen – manchmal sogar unter persönlichen Opfern -, die die Pflege ihres Gemeinwesens mit sich bringt, und es gegen seine Feinde verteidigen. Sie müssen Steuern zahlen, sich an die Gesetze halten und sich engagieren, wenn ihre Gemeinschaft von innen oder von außen bedroht ist. Wenn sie dies nicht unter Zwang tun sollen (was sich für eine freie politische Gemeinschaft verbietet), dann müssen sie es selbst wollen. Das setzt aber voraus, dass die Bürger einen starken Sinn für die Zugehörigkeit zu ihrem Gemeinwesen haben, ja dass sie im äußersten Fall dazu bereit wären, für es zu sterben. Kurz, sie müssen etwas besitzen, das man bis ins 18. Jahrhundert hinein “Patriotismus” nannte.
Vor diesem Hintergrund weist das Bild der Demokratie, wie es die ökonomische Theorie zeichnet, wesentliche Lücken auf. Wenn die Menschen ihre Zielsetzungen wirklich als individuell, wenn sie ihr Gemeinwesen wirklich als Instrument ansähen, dann besäßen sie keinen Patriotismus, keine vertu, und die Gemeinschaft der Bürger wäre nicht imstande, sich äußeren Angriffen, inneren Umsturzversuchen oder einfach der Erosion  der politischen Institutionen zu widersetzen. Das System zu betrügen, würde allgemeiner Usus und es schließlich lahmlegen, so dass nur noch die Mittel der Despotie greifen.
Kurz, in einer funktionierenden Demokratie können nicht alle Zielsetzungen individuell sein bzw. gemeinsame Ziele nicht schlicht deren Konvergenzprodukt. An einem Gemeingut zumindest muss unbedingt festgehalten werden: Die Existenz des Gemeinwesens als solches samt seiner Gesetze muss ein Gut darstellen, das respektiert und gepflegt wird.
In diesem Licht lässt sich die in großen Demokratien zu beobachtende Entfremdung der Bürger von ihrem Gemeinwesen, die sich darin äußert, dass sie ihre Ziele tatsächlich als individuelle setzen und ein instrumentelles Verhältnis zur Gesellschaft haben, als parasitäres Phänomen verstehen. Dass so viele Menschen ein loses und distanziertes Verhältnis zu ihrer Demokratie haben können, ist nur deshalb möglich, weil es gleichwohl immer noch ein beträchtliches Maß allgemeiner Identifikation mit der Gesellschaft und ihren Gesetzen gibt. Wenn allerdings alle ihr den Rücken zukehrten, wäre sie ernstlich bedroht.

2. Der Familie der Demokratietheorien, die dem ökonomischen Modell folgen, steht diametral eine andere Theoriefamilie gegenüber, die sich von Rousseau herleitet, oder zumindest von einer möglichen Interpretation Rousseaus. Diese Theorien beanspruchen, jene Tradition des bürgerlichen Humanismus aufzunehmen, der es vor allem um das geht, was die ökonomische Theorie vernachlässigt, also um den Anspruch der Bürger, sich selbst zu regieren, und die damit verbundene Würde.
Folgt man der Argumentation des “Contrat Social”, kann Selbstregierung als Wille aufgefasst werden. Ich bin frei und bestimme über mich selbst, wenn ich nur mir selbst gehorche und von meinem eigenen Willen geleitet werde. Für eine Gesellschaft kann dies nur dann eine Grundlage abgeben, wenn es einen Gemeinwillen, eine volonté générale gibt. Andernfalls würde der Wille des einen den des andern unterdrücken. Demokratie hat demnach einen Gemeinwillen zur unabdingbaren Voraussetzung, an dessen Artikulierung alle partizipieren und mit dem sich alle identifizieren.
Niemand beruft sich heute unmittelbar auf Rousseau, aber seine Idee des Gemeinwillens inspirierte eine ganze Reihe von Demokratieauffassungen, die bis in unsere Zeit lebendig geblieben sind. Wir finden sie z. B. in den Forderungen nach radikaler Partizipation wieder, wie sie die Protestbewegungen der späten sechziger Jahre erhoben. Sie gingen von der stillschweigenden Annahme aus, dass, wenn Einfluss und Macht bestimmter undemokratischer Interessen bzw. die Gewalt repressiver Lebensformen erst einmal gebrochen sind, eine bisher verborgene Einmütigkeit zutage träte, die jeden einzelnen in die für alle geltenden Bedingungen einer vollen Entfaltung der Gesellschaft einwilligen lassen würde.
Der geschichtsmächtigste Erbe der politischen Ideen Rousseaus aber war der Marxismus, besonders seine leninistische Variante. Ihm liegt die tiefe Überzeugung zugrunde, dass Gesellschaftskonflikte Klassenkonflikte sind und dass die Überwindung der Klassengesellschaft schließlich eine Harmonie der Interessen zum Vorschein bringen wird. Entsprechend heißt es im “Kommunistischen Manifest”: “An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist”.[3] Insofern kann man hier von einem Gemeinwillen des Proletariats sprechen, der es durch die Revolution hindurch trägt, hinein in eine neue, auf Herrschaftsfreiheit angelegte Gesellschaft. Der Leninismus übernahm diese Vorstellung und verband sie mit der verhängnisvollen Idee der Partei als Avantgarde des Proletariats. Die leninistischen Parteien bzw. Regierungen haben immer im Namen der Arbeiterklasse gesprochen, als ob diese sich durch eine einzige Zielsetzung auszeichnete, die von der Partei zu artikulieren und zu verwirklichen wäre. So lebte die volonté générale im 20. Jahrhundert weiter in Gestalt von Regimen, die die Unterdrückung in wahrhaft gigantischen Dimensionen systematisierten. Jean-Jacques hätte das Grauen gepackt, wenn er erlebt hätte, was man aus seiner Idee gemacht hat.
Wie die ökonomische Theorie trifft auch die des Gemeinwillens eine wirkliche Erfahrung. Diese Erfahrung stellt allerdings das genaue Gegenteil des Gefühls der Entfremdung vom Gemeinwesen dar. Es ist die Erfahrung von Menschen, denen es gelingt, gegen ein Klima von Entfremdung oder gar Repression eine Bewegung zu mobilisieren, mittels derer sie ihre Interessen in Angelegenheiten einbringen können, die sie selbst betreffen. Wenn Bürger sich gegen eine Diktatur organisieren oder Mieter sich gegen den Abbruch ihres Hauses zur Wehr setzen, machen sie die Erfahrung eines starken Gemeinschaftsgefühls: Sie verfolgen ein gemeinsames Ziel, empfinden ihre Stärke bei dessen Durchsetzung und achten sich als Menschen, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. In dieser Kampfsituation wird Rousseaus Idee Wirklichkeit. Die Beteiligten überwinden die Differenzen, die sie sonst trennen, sie sind sich der Bedeutung ihres gemeinsam angestrebten Zieles bewusst und haben das berechtigte Gefühl, dass dieses Ziel zu erreichen ein Sieg für den Anspruch auf Selbstregierung wäre. Sich unter einem solchen gemeinsamen Ziel zu versammeln, kann für die Bürger und das Gemeinwesen sehr belebend sein. Es ist ein wichtiges Moment von Demokratieerfahrung.
Gleichwohl spiegelt diese Erfahrung den demokratischen Prozess und die Beziehungen, die die Menschen in ihm eingehen, nur zum Teil wider; für eine Demokratietheorie gibt sie keinen hinreichenden Ansatz ab. Denn es wird ganz davon abgesehen, dass Menschen und Gruppen die meiste Zeit Ziele verfolgen, die einander widersprechen, dass sie Gegner oder Rivalen sind, mit unterschiedlichen und unvereinbaren Interessen und mit verschiedenen Vorstellungen vom Gemeinwohl. In einem demokratisches System müssen diese Differenzen und Rivalitäten auf eine bestimmte Weise ausgetragen werden können, statt dass man ihnen ausweicht. Die Momente, da eine ganze Gesellschaft die Euphorie eines gemeinsamen Willens teilt, sind selten, und oft genug sind es gerade die tragischen Augenblicke in ihrer Geschichte. Die Erfahrung des Gemeinwillens von Gruppen ist Teil des laufenden Kampfes um Zielsetzungen und kann nicht an seine Stelle treten.
Als Leitfaden für eine demokratische Gesellschaft ist das von Rousseau inspirierte Modell verheerend. Es spricht Differenzen, Konkurrenz und Streit ihre Legitimität ab. Da diese aber nur durch Repression abgeschafft werden können, sind alle Regime, die auf diesem Modell beruhen, Despotien.

3. An beiden hier vorgestellten Modellen ist etwas Wahres, doch möchte ich nun ein drittes vorstellen, das meines Erachtens dem Wesen einer lebendigen demokratischen Gesellschaft besser gerecht wird. Es stützt sich ebenfalls stark auf die bürgerlich-humanistische Tradition, aber anders als das auf Rousseau zurückgehende Modell. Es räumt Konkurrenz und Streit den Platz ein, der ihnen in einer freien Gesellschaft gebührt; darin unterscheidet es sich von der Theorie des Gemeinwillens. Dennoch geht dieses dritte Modell davon aus, dass es für die Mitglieder der Gesellschaft einen zentralen, Einheit stiftenden Identifikationspol gibt; darin entfernt es sich von der ökonomischen Theorie. Die Quellen der dritten Theorie finden sich bei Tocqueville[4] und, was unsere Zeit betrifft, bei Hannah Arendt[5].
Der Identifikationspol besteht im “Gesetz” als dem Inbegriff der zentralen Institutionen und Verfahren des politischen Systems. Diese Einrichtungen werden als Gemeingut betrachtet und gepflegt, weil alle Beteiligten in ihnen Quelle und Schutz ihrer Würde sehen. Dabei gilt ihnen als selbstverständlich, dass sie oft Konkurrenten sind, dass sie mit der Politik und der Verteilung der Staatsämter nicht immer einverstanden sind, aber gleichzeitig erfreut sich die Möglichkeit, als Gleiche an diesen Auseinandersetzungen teilzunehmen, hoher Wertschätzung. Die Gesetze, welche diese Möglichkeit für alle gewährleisten, spiegeln den gemeinschaftlichen Willen wider, sich gegenseitig in dieser Möglichkeit anzuerkennen, und stellen damit ein Gemeingut von unschätzbarem Wert dar.
Das ist natürlich eine Idealisierung, besser: ein Idealtyp, wie bei den anderen beiden Theorien. Bürger, die aktiv partizipieren und Anspruch auf eine Führungsrolle in den Auseinandersetzungen des öffentlichen Lebens erheben, stellen eher eine Minderheit dar. In Wirklichkeit gibt es für Menschen, die sich in Organisationen und Bewegungen engagieren, mehrere Ebenen möglicher Partizipation und mehrere Wege, Einfluss auf den politischen Prozess zu gewinnen – von politischen Spitzenpositionen bis zur Mitgliedschaft in der Parteibasis. Und alle Aktiven zusammengenommen bilden wohl immer noch eine Minderheit.
Darüber hinaus decken, wie bereits erwähnt, die anderen beiden Theorien bereits ein Gutteil der Alltagserfahrung ab. Viele, die politisch abstinent bleiben, würden die ökonomische Theorie zutreffend finden; und wer Protestbewegungen organisiert, mag sich eher durch die Theorie des Gemeinwillens angesprochen fühlen. Aber dies alles einmal zugestanden, so ist es wohl doch wahr, dass die Gesetze und Institutionen der demokratischen Gesellschaft allgemein anerkannt werden als eine Art gemeinsamen Ausdrucks von Bürgerwürde, wie sie allen gleichermaßen zusteht. Dies ist von entscheidender Bedeutung.
Zur Illustration eine Episode aus der jüngeren Geschichte der Vereinigten Staaten: Trotz aller Unvollkommenheiten dieses Gemeinwesens als Demokratie, trotz all seiner gigantischen, machtgierigen Bürokratien in Wirtschaft und öffentlichem Leben, trotz des Gefühls der Entfremdung und der politischen Ohnmacht bei den Bürgern, wurde Watergate dermaßen stark als nicht hinzunehmender Vertrauens- und Machtmissbrauch empfunden, dass der Präsident sein Amt aufgeben musste. Ein klassischer Fall, in dem sich Bürger zur Wehr gesetzt haben in der Überzeugung, dass ihre Würde im Gesetz verbürgt ist und dass dessen Verletzung nicht geduldet werden darf.
Es dürfte nun klar geworden sein, warum ich dieses Modell der Demokratie vorziehe. Alle drei Modelle korrespondieren mit heutigen Erfahrungen. Aber die ersten beiden verfehlen den demokratischen Gesamtprozess und die Beziehung seiner Teilnehmer untereinander. Wir bedienen uns in der Tat eines gemeinsamen politischen Instrumentariums; wir sind zuweilen auch in einem gemeinsamen Willen vereint. Aber wenn eines dieser Momente zum zentralen Faktum unseres politischen Lebens wird, werden wir uns des demokratischen Gemeinwesens nicht mehr lange erfreuen. Dessen einzige solide Basis besteht darin, dass es von seinen Mitgliedern als eine Einrichtung wahrgenommen und verteidigt wird, die allen gleichermaßen Bürgerwürde garantiert.

III
Worin bestehen nun die Bedingungen, die ein solches Gemeinwesen möglich und lebendig machen? Zu den zentralen Merkmalen demokratischen Lebens, wie ich es eben skizziert habe, gehört die Vorstellung von der gleichen Würde aller Beteiligten. Sie wurde bereits in den ersten Demokratien bei den Griechen anerkannt; in einigen bezeichneten sich die Bürger als “die Gleichen”. Doch gehörten in diesen Gesellschaften nicht alle ihre Mitglieder zur Klasse der Bürger. Es waren Demokratien, die Verhältnisse eklatanter Ungleichheit enthielten, wie etwa Sklaverei, und die die Unterdrückten von allen Staatsgeschäften ausschlossen.
Unsere moderne Vorstellung von Demokratie unterscheidet sich davon: Demokratie hat alle einzuschließen, ohne Ausnahme. Folglich verträgt sich Demokratie nicht mit Verhältnissen, seien sie kulturell oder ökonomisch, die es den Menschen unmöglich machen, sich als Gleiche zu betrachten. In einer hierarchisch geprägten Kultur, die den verschiedenen Schichten verschiedene Ränge zuweist, kann Demokratie nicht gedeihen. Ähnliches gilt für Verhältnisse, in denen die ökonomische Macht noch konzentriert ist, wie etwa bei den Großgrundbesitzern in Lateinamerika.
Damit erhebt sich die Frage nach der Verträglichkeit von Demokratie und sozialistischer bzw. kapitalistischer Wirtschaftsform. Ich komme später darauf zurück. Zunächst möchte ich einige weitere Bedingungen von Demokratie betrachten.

1. Eine solche Bedingung ist Einheit. Gemäß dem von mir verfochtenen dritten Modell ist es für eine Demokratie wesentlich, dass ihre Mitglieder sich als Beteiligte am gemeinsamen Unternehmen der Wahrung ihrer Bürgerrechte verstehen. Das heißt nicht einfach, dass sie Demokratie allgemein gutheißen, sondern dass sie sich ihren Mitbürgern gegenüber hinsichtlich der Verteidigung dieser Rechte in besonderer Weise verpflichtet fühlen. Wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit missachtet werden, insbesondere wenn dies mit Blutvergießen verbunden ist, wie etwa beim Putsch in Chile 1973, ist die öffentliche Meinung in der zivilisierten Welt tief schockiert. Viele Menschen würden gerne helfen, denn sie fühlen sich der Demokratie als politischer Form prinzipiell verpflichtet. Doch bleibt es, wie wir wissen, meist bei den guten Absichten. Wenn ein Bürger seine Verfassung wirklich verteidigen, wenn er sich wirklich für die Mitbürger einsetzen soll, deren Rechte verletzt werden, muss der Antrieb stärker sein. Er kann nur aus einem Gefühl von Solidarität kommen, das die allgemeine Verpflichtung zur Demokratie übersteigt und mich mit jenen anderen, meinen Mitbürgern, verbindet.
Dieses Solidaritätsgefühl ist Bestandteil der ursprünglichen Bedeutung von “Patriotismus”, die ich oben erwähnt habe. Heute hat sich die Bedeutung des Wortes etwas in Richtung “Nationalismus” verschoben, zumindest im Englischen und Französischen, was in keiner Weise seinem Verständnis etwa zu Zeiten der Amerikanischen und Französischen Revolution entspricht. Allerdings ist dieser Bedeutungswandel selbst bezeichnend, insofern Solidarität heute zu einem großen Teil aus nationalistischen Gefühlen gespeist wird.
Wie verhalten sich Einheit als Bedingung von Demokratie und Einheit in Gestalt nationaler Identität zueinander? Letztere beruht oft auf einer bestimmten Sprache bzw. Kultur und ist mit der – manchmal fiktiven – Geschichte einer kulturellen Gruppe verbunden. Nationales Bewusstsein hängt in hohem Maße von narrativen Formen ab, die ein Gefühl dafür hervorbringen, von woher wir kommen und wohin wir gehen. Aber zwischen der nationalen Erzählung und der Tatsache, dass wir uns zu der Einheit eines von uns selbst regierten Gemeinwesens zusammengeschlossen haben, muss es keinen Zusammenhang geben. Die demokratische Einheit kann sogar unvereinbar mit der nationalen sein. Durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch und bis ins 20. hinein ließ sich z.B. ein großer Teil der Bevölkerung Frankreichs nur allzu gern eine Geschichte nationaler Größe erzählen, die den republikanischen Institutionen Hohn sprach. In den Augen von vielen arbeitete der Nationalismus gegen die Demokratie, im Namen von Regimen zumeist royalistischer Prägung. Ihr schäbiges Ende fand diese Erwartung in Vichy. Es war dann der katholische und national gesonnene Militär Charles de Gaulle, der mit Erfolg zur Verteidigung des republikanischen Frankreich aufrief.
Langfristig stabil sind vor allem jene Demokratien, in welchen die nationale Identität mit den Institutionen und Verfahren der Selbstregierung eng verwoben ist. Die nationale Geschichte, gleich, ob sie einen Mythos erzählt oder Anspruch auf historische Wahrheit erhebt, hat in diesen Fällen die Entstehung der demokratischen Institutionen selbst zu einem zentralen Thema gemacht: Zur Nation zu gehören, heißt nicht zuletzt, Loyalität gegenüber diesen Institutionen zu empfinden. Beispiel hierfür sind die angelsächsischen Demokratien.

2. Als zweite Bedingung für Demokratie möchte ich hier die Partizipation nennen. Deren Verkümmerung ist eine bedrohliche Gefahr für die Massendemokratien des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Angesichts von Regierungen, die immer bürokratischer werden und sich gegen andere Bürokratien, auch solche von Konzernen, behaupten müssen, angesichts der schieren Größe von Bürokratien, die für eine Millionengesellschaft mit ihrer komplexen Wirtschaft zuständig sind, angesichts der immer unvorhersehbarer werdenden Folgen von politischen Entscheidungen – angesichts all dessen empfinden viele Bürger eine wachsende Hilflosigkeit und kehren ihrem Gemeinwesen den Rücken. Dadurch entsteht ein Klima, das die ökonomische Theorie als die angemessenste erscheinen lässt, und in der Tat scheinen die von ihr favorisierten Mechanismen die letzte Chance für die Demokratie im Zeitalter der Bürokratien darzustellen.
Doch ist ebenso klar, dass der Schwund der Partizipation das Bewusstsein untergräbt, an dem gemeinsamen Vorhaben der Selbstregierung beteiligt zu sein. Wenn die dritte Theorie zutrifft, kann die Demokratie ohne dieses Bewusstsein kaum überleben. Der Bürgersinn würde in einer weitgehend schweigenden, bürokratisierten Gesellschaft, in der sich Partizipation auf die alle vier Jahre erfolgende Stimmabgabe beschränkt, kaum aufrechtzuerhalten sein. Damit würde auch der Sinn dafür schwinden, wenn nicht verschwinden, dass Gesetze und Institutionen ein schützenswertes Gemeingut sind.
Demokratie lebt also von direkter Partizipation. Darunter verstehe ich Bewegungen, in denen sich die Bürger selbst organisieren, um auf den politischen Prozess einzuwirken, um die öffentliche Meinung zu ändern, um Druck auf die Regierung auszuüben, um über Wählerinitiativen bestimmte Personen in politische Ämter zu bringen, oder auch, um gelegentlich die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, wenn die Regierung in ihren Augen versagt.
Diese Bewegungen erzeugen einen Sinn für zivile Macht, ein Gemeinschaftsgefühl bei der Verfolgung von Zielen, kurz: Erfahrungen, wie ich sie oben als vital für die volonté générale angeführt habe. Solche Bewegungen geraten leicht in eine Front gegen große, bürokratische Regierungen und Konzerne. Die Idee liegt nun auf der Hand, ein Gemeinwesen zu bilden, das ganz und gar auf unmittelbarer politischer Beteiligung beruht. Diese Idee spielte wohl auch bei dem Konzept der Räteregierung eine Rolle, wie es der revolutionären Erfahrung der Soldaten- und Arbeiterräte entsprang und das dann, zumindest dem Anspruch nach und für eine Zeitlang, Bestandteil der sowjetischen Herrschaftsform wurde.
Nicht jeder Versuch, direkte Partizipation zu institutionalisieren, muss so kläglich enden wie im Sowjetsystem. Dennoch hat der Rätegedanke einen entscheidenden Fehler. Die Annahme, dass die Herrschaft als Gemeinwillen ausgeübt werden kann, ist, wie ich bereits ausgeführt habe, irrig. Aber selbst da, wo es eine unmittelbare politische Beteiligung gibt, die diese Illusion nicht hervorbringt, selbst wenn der Blick für die Existenz von Widerspruch und Konkurrenz offen bleibt, würde eine auf direkter Partizipation beruhende Regierung die Macht doch nur durch eine aktive Minderheit ausüben können. Man kann sich fragen, was daran denn so schlecht wäre, da wir heute ohnehin so oft von versteckten Minderheiten regiert werden: von Bürokraten in öffentlichen Ämtern und in der Wirtschaft. Der entscheidende Punkt bei einer repräsentativen Massendemokratie liegt aber darin, dass sie ein Machtkorrektiv in Bezug auf die Herrschaft dieser Minderheiten bereitstellt. Darin hat die ökonomische Theorie ja ihre Wahrheit. Die Stimmabgabe, die die vielen sonst Unbeteiligten alle vier Jahre zu Wort kommen lässt, trägt nicht viel zur Bürgerwürde bei. Dennoch stellt dieser Akt einen entscheidenden Beitrag zu ihrem Schutz dar und verhindert damit, dass die Bürger ihrer Würde gänzlich beraubt werden.
Eine lebendige Demokratie muss auf zwei Beinen stehen: Zum einen braucht sie eine zentrale Amtsgewalt, die den Wählern verantwortlich ist, ungeachtet dessen, wie enttäuschend dies als Ausübung echter Selbstregierung ist; zum andern bedarf sie ebenso einer weitgespannten Vielfalt von Formen direkter Partizipation. Entscheidend ist, ob und wie beide kombiniert werden können. Sie können sich frontal gegenüberstehen, etwa wenn die Partizipation die Form einer Art demokratischen Guerilla-Krieges annimmt, um die Regierung daran zu hindern, Dinge zu tun, die das Leben der Menschen beeinträchtigen oder in Gefahr bringen: etwa giftige Abfälle in der Nähe von Wohnvierteln zu lagern oder Autobahnen durch sie hindurch zu bauen; oder wenn die Partizipation die Form von single issue-Kampagnen – etwa gegen die Tötung von Robben oder gegen sauren Regen – annimmt, in denen die Beteiligten die Verantwortung für die Regierungspolitik als ganze zugunsten einer von ihnen favorisierten Einzelforderung preisgeben.
Sich gegen die Macht zu wehren oder Einzelkampagnen zu organisieren bilden natürlich wesentliche Aspekte aktiver Partizipation. Es geht aber darum, wie zu verhindern ist, dass diese Aspekte erfolgreich beanspruchen, schon die ganze Demokratie zu sein. Die wichtigste Alternative hierzu besteht in der Beteiligung an der Arbeit der Parteien oder in direktem Handeln auf lokaler Ebene. Bedingung für eine solche “positive” Partizipation ist allerdings, dass die Gewalt dezentralisiert wird. Wo alle wichtigen öffentlichen Angelegenheiten durch die zentrale Amtsgewalt entschieden werden, die notwendig abstrakt denkt und handelt, weit entfernt von den Gemeinschaften, in denen die Menschen ihr wirkliches Leben leben, dort werden die Parteien leicht selbst undurchdringlich und sperren sich gegen Aktionen von unten. Direktes Handeln wird dann fast unmöglich.
Deshalb ist es so wichtig, die Gewalt zu dezentralisieren; dies kann territorial oder in Bezug auf Institutionen geschehen. Doch kann Dezentralisierung nicht einfach dekretiert werden – womit wir zur ersten Bedingung für Demokratie zurückkehren. Es reicht nicht, den Staat in eine Anzahl territorialer Einheiten aufzuteilen oder zu verfügen, dass die Arbeiter eines Betriebes dieses oder jenes Komitee wählen. Solche Einheiten müssen eine Beziehung zu lebendigen Identifikationsgemeinschaften haben. Wenn die Menschen sich nicht mit den dezentralisierten Einheiten identifizieren können, wenn sie nicht das Gefühl haben, dass sie ein gemeinsames Schicksal verbindet und sie an einem gemeinsamen Vorhaben beteiligt sind, wird die Partizipation ein frommer Wunsch bleiben.

3. Die dritte Gruppe von Bedingungen betreffen den Sinn für gegenseitigen Respekt. Dieser ist offensichtlich zentral für ein demokratisches Gemeinwesen, wie ich es definiere. Ohne diesen Respekt bliebe es unverständlich, warum das Gemeinwesen die Bürgerrechte gemeinschaftlich verteidigt. Wenn auch nur eine regional, ethnisch, sprachlich oder wie immer bestimmte Gruppe von Bürgern Anlass zu der Annahme hat, dass ihre Interessen übergangen werden oder dass sie diskriminiert wird, ist die Demokratie in Frage gestellt.
Wenn wir einmal von den wichtigen Fragen der Rassen- und Geschlechterdiskriminierung absehen, besteht die große Errungenschaft der modernen Demokratien in der Einrichtung des Wohlfahrtsstaates. Er hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Bürger sich gegenseitig eine gewisse Achtung bezeugen; zumindest hat er verhindert, dass diese Achtung irreparablen Schaden genommen hat.
Zugleich stellt der Wohlfahrtsstaat eine starke Belastung für die moderne Demokratie dar. Die hohen Erwartungen, die die Menschen ihm gegenüber hegen, können, zusammen mit einer bürokratischen Organisation seiner Leistungen, hohe Kosten und große Probleme mit sich bringen. Die demokratische Gesellschaft kann dadurch in ein Dilemma geraten.
Dieser Herausforderung versucht die Politik gerne auszuweichen. Galoppierende Inflation kann ein Symptom dafür sein. Statt sich dem Problem zu stellen, dass das System nicht alle Forderungen, zumal wenn sie  sich widersprechen, erfüllen kann, wird es durch eine Geldpolitik in Gang gehalten, die auf eine unsichtbare Steuer auf die Realeinkommen hinausläuft.

4. Ich möchte nun auf die Frage zurückkommen, welche Bedeutung die Wirtschaftsformen des Kapitalismus und die des Sozialismus für die Demokratie haben. Natürlich sind beides vage Begriffe. Sie können sehr verschieden interpretiert werden, so dass auch die Antwort jeweils anders ausfällt. Ich will hier aber gar nicht den Versuch einer genaueren Bestimmung unternehmen, sondern mich eher an die gegenwärtigen Erscheinungsformen halten. Vielleicht lässt sich die politische Bedeutung von Kapitalismus und Sozialismus am besten ausgehend von der Frage einschätzen, inwiefern diese beiden Formen eine Gefahr für die Demokratie darstellen, um von da aus kurz mögliche Entwicklungen für die Zukunft anzudenken.
Der Kapitalismus stellte zunächst eine handfeste Gefahr für die Demokratie dar; wo er vor ihr existierte, drohte er sogar, ihre Entwicklung zu blockieren. Die Bedrohung rührte von dem ungleichen Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern her. Diese Gefahr wurde erfolgreich durch das Auftreten von Volksbewegungen gebannt, vor allem in Gestalt der Gewerkschaftsbewegung. Das politisches Gewicht dieser Bewegungen hat die Gesellschaften von damals umgestaltet und einige Voraussetzungen für gegenseitigen Respekt geschaffen; dazu gehört auch der Wohlfahrtsstaat.
Der heutige Kapitalismus bedroht die Demokratie auf andere Weise, in gewissem Sinne raffinierter. Dies ist auf zwei Ebenen zu beobachten. Zum einen greift der Kapitalismus der – oft multinationalen – Großkonzerne in die Lebensbedingungen der Menschen ein und zieht Macht von den Institutionen der Partizipation ab, um sie auf bürokratische Organisationen zu übertragen, die sich dem Prinzip der Verantwortung entziehen. Zum anderen, und dies ist das Raffinierte, verleitet uns die Ideologie des Konsums dazu, in diesen Verzicht auf Verantwortung einzuwilligen im Tausch gegen das Versprechen auf weiter wachsenden Lebensstandard. Sobald wir uns darauf einlassen, erscheint die ökonomische Theorie der Demokratie nicht nur realistisch, sondern ihre Umsetzung auch wünschenswert: Die Partizipation hat ihre Bedeutung verloren und scheint nur noch das reibungslose Funktionieren des Systems zu gefährden. Damit ist die Demokratie als gemeinsame Quelle der Bürgerwürde in Frage gestellt. Das würde aber, folgt man der von mir vertretenen Auffassung, heißen, dass letzten Endes das demokratische Gemeinwesen als solches in Gefahr ist.
Auf der anderen Seite war der Sozialismus in seiner leninistischen Gestalt eine Katastrophe für die Demokratie. Die Mobilisierung der Gesellschaft durch eine alles vereinnahmende Avantgarde hat alle Strukturen von Selbstverwaltung zerstört, unterwarf alle potentiell unabhängigen Bewegungen einer Partei, die in totaler Symbiose mit dem Staat lebte (das Schicksal der Gewerkschaften ist hier besonders bezeichnend) und verhinderte die Entwicklung demokratischer Initiativen. Das Resultat ist bekannt: massive kulturelle und wirtschaftliche Stagnation bei gleichzeitiger Verkümmerung der gesellschaftlichen Fähigkeiten zu Selbstverwaltung und -organisation. Das Erschreckende daran ist, dass der Despotismus sich damit unentbehrlich macht, weil die Menschen ohne ihn nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben zu bewältigen.
Was ist aus der traurigen Geschichte des Sozialismus in diesem Jahrhundert zu lernen? Zunächst einmal ist von der Illusion einer volonté générale Abschied zu nehmen; sie stellt keine taugliche Basis für eine demokratische Gesellschaft dar. Auch müsste ein akzeptables, d.h. demokratisches Modell von Sozialismus Konkurrenz und Konflikt zulassen. Darüber hinaus ist ein Sozialismus, der sich die Abschaffung des Marktes zum Ziel macht, obsolet; keine moderne Wirtschaft kann ohne Markt funktionieren.
Zwischen den Gefahren, für die die Namen “Kapitalismus” und “Sozialismus” nur Abkürzungen sind, muss die Demokratie ihren Weg finden. Manche verzweifeln daran. Ich ziehe es vor, optimistisch zu bleiben. Wenn es überhaupt einen solchen Weg gibt, kann man zumindest seine ungefähre Richtung angeben. Er führt zu einer Gesellschaft, in der die Macht der privaten Großunternehmen durch ein Gegengewicht in Gestalt öffentlichen Eigentums ausbalanciert, wenn nicht überboten würde. Die großen privaten Bürokratien dürften allerdings nicht einfach durch massive öffentliche Bürokratien ersetzt werden. Die Wirtschaft wäre gemischt: Der Markt würde eine wichtige Rolle spielen, gleichzeitig aber bis zu einem gewissen Maße durch Planung gesteuert werden. Schließlich müsste die Gewalt in dieser Gesellschaft in einem beträchtlichen Maße dezentralisiert sein, so dass wichtige Entscheidungen nicht fern von den davon Betroffenen gefällt werden.
Wenn es irgendwie gelänge, die Dilemmas zu lösen, die in dem hier skizzierten Modell stecken, könnte sich die ideale demokratische Gesellschaft vielleicht eines bisher nie erprobten Wirtschaftssystems erfreuen: Eine große Menge von kleinen Privatunternehmern würde mit Großfirmen in öffentlichem Besitz koexistieren, die unter Selbstverwaltung stehen; das Ganze würde von einem Markt koordiniert, der staatlich reguliert würde, wobei der Staat seinerseits eine föderale Struktur hätte. Wird es so etwas je geben? Vielleicht nicht. Ich skizziere hier nur, in ein einziges Bild gepresst und Platon parodierend[6], die Richtung, in die wir uns vielleicht bewegen müssen, um eine Form der Demokratie zu bewahren, die lebensfähig, lebendig ist und uns ins 21. Jahrhundert trägt.
Aus dem Englischen von Klaus Nellen
Charles Taylor ist Professor em. für Philosophie an der McGill University, Montreal, und Permanent Fellow am IWM.

Anmerkungen
[1] Zuerst erschienen in: Transit: Europäische Revue, Nr. 5 („Gute Gesellschaft“, Winter 1992/93).
[2] Vgl. Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1987 (6. Aufl.).
[3] MEW 4, S. 482.
[4] Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1981; Der Alte Staat und die Revolution, 1978.
[5] Vita activa oder Vom Tätigen Leben, München 1992 (6. Aufl.).
[6] Politeia 592 b: “Aber, sprach ich, im Himmel ist doch vielleicht ein Muster aufgestellt für den, der sehen will und nach dem, was er sieht, sich selbst einrichten.”

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