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Freundschaft - vormals & digtial
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SWR2 Wissen: Aula - Philip Kovce: Ziemlich beste Freunde? Freundschaft vormals und  in digitalen Zeiten
Sendung: 28.10.2018 Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018

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Gast-/Freundschaft bedeutet Wahlverwandtschaft zwischen sich selbst und der Fremdenfreundschaft
Augenblicksfreundschaft statt Scheinalternative von abstrakter Allerweltsfreundschaft

ÜBERBLICK
Freundschaft ist ein inflationärer Begriff. In den sozialen Netzwerken tummeln sich Freundesjäger, die ihre Trophäen an die digitale Pinnwand heften, und um uns herum gibt es nur noch Freunde: Baumfreunde, Sandkastenfreunde, Busenfreunde, Menschenfreunde. Doch was ist wahre Freundschaft, was zeichnet sie aus?

SWR2 Wissen: Aula - Philip Kovce: Ziemlich beste Freunde? Freundschaft damals und  in digitalen Zeiten
Sendung: 28.10.2018 Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018
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Autor
Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht an der Universität Witten/Herdecke sowie am Basler Philosophicum. Er gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome an und schreibt regelmäßig für Presse und Rundfunk.
Literatur:
- Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft. Passagen: Wien 2007.
- Klaus-Dieter Eichler (Hg.): Philosophie der Freundschaft. Reclam: Leipzig 1999.
- Byung-Chul Han: Agonie des Eros. Matthes & Seitz: Berlin 2015.
- Thomas Karlauf (Hg.): Deutsche Freunde. Zwölf Doppelporträts. Rowohlt: Berlin 1995.
- Till Raether: Was mich an Freundschaften stört. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 44/2017.
- Rüdiger Safranski: Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft. Fischer Taschenbuch: Frankfurt am Main 2015.
- Robin Schmidt: Orte der Geistesgegenwart. Essays über Gastfreundschaft. Verlag am Goetheanum: Dornach 2017.
- Björn Vedder: Neue Freunde. Über Freundschaft in Zeiten von Facebook. Transcript: Bielefeld 2017.
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ÜBERBLICK
Der Vortrag von Philip Kovce auf einen Blick:
Die Geburtsstunde der modernen Freundschaft ist die Beziehung zwischen Goethe und Schiller, Ende des 18. Jahrhunderts. Beide akzeptieren ihre Eigenarten und nehmen den jeweils anderen nicht in Besitz. Trotz aller Freundschaft gilt: Goethe bleibt Goethe. Schiller bleibt Schiller. Und dennoch steigern sich beide im freundschaftlichen Verhältnis – und wachsen über sich hinaus.

Zeichen einer echten Männerfreundschaft: Denkmal von Goethe und Schiller in Weimar.

In jeder gelungenen Freundschaft geht es um Selbstvergewisserung, Selbstverwandlung und Selbststeigerung. Zunächst vergewissern sich beide ihres Eigenseins aufgrund der Andersartigkeit des anderen. Die Eigenheit wird im Spiegel des anderen bestärkt – und zugleich als Einseitigkeit erfahren. Dieser Mangel ruft zu einem nächsten Schritt auf: zu einer Selbstverwandlung, die der andere anregt und auslöst. Schließlich übersteigt sich das alte Selbst und wächst dem anderen entgegen – es findet sich neu, ohne sich ganz zu verlieren.
Freundschaft ist immer subversiv: einerseits, indem sie eine Gemeinschaft jenseits der Gesellschaft und damit auch jenseits von Nation, Konfession und Profession stiftet; andererseits, indem sie den modernen moralischen Universalismus zu einem ethischen Individualismus fortbildet, der sich weder am Allgemeinen noch am Besonderen, sondern jenseits von moralischer Willkür- oder Vetternherrschaft am Einzelfall orientiert. Die Philosophie der Freundschaft klingt auf diese Weise mit einer Philosophie der Freiheit zusammen. Denn Freisein bedeutet ursprünglich bei Freunden sein.
 
Eine Gruppe Freunde beim Essen im Restaurant

Wie hat sich Freundschaft in Zeiten von Smartphones und Sozialen Medien gewandelt?
Mit dem Einzug der digitalen Medien haben sich ganz neue Phänomene ergeben, die Freundschaft auf Facebook etwa. Was ist Freundschaft genau? Wie hat sie sich verändert?
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

MANUSKRIPT:
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Ziemlich beste Freunde? Freundschaft damals und heute“. Am Mikrofon Ralf Caspary.
Freundschaft macht das Leben lebenswert heißt es, Freundschaften sind oftmals stabiler und tiefer als Liebesbeziehungen, in der Freundschaft gibt es keinen Konkurrenzkampf, keine sexuellen Grabenkämpfe, kein Geschacher um die Kinder und das gemeinsame Haus. Stimmt das? Wenn ja, was macht die Exklusivität von Freundschaften aus, wie hat sich diese Beziehungsform in den letzten Jahrhunderten verändert?
Dazu der Philosoph, Wirtschaftswissenschaftler und Buchautor Philip Kovce:

Philip Kovce:
Wir leben dieser Tage in freundschaftsfreudigen Zeiten. Freundschaft genießt einen guten Ruf. Und wohin man auch blickt, überall finden sich Freunde: Es gibt
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Pflanzenfreunde, Tierfreunde, Menschenfreunde, Sandkastenfreunde, Busenfreunde, Freundeskreise, Freundschaftsdienste – ja überhaupt gibt es nichts und niemanden, mit dem man heutzutage nicht befreundet sein könnte. Vom Haustier bis zum Sportverein, vom Nachbarn gegenüber bis zum Briefpartner am anderen Ende der Welt – der Freundschaft scheinen keine Grenzen gesetzt. Sogar mit sich selbst solle man befreundet sein, empfehlen Ratgeber und Therapeuten. Verwandtschaftliche Verhältnisse, die jahrhundertelang die soziale Ordnung prägten, werden dagegen brüchiger und spielen eine immer geringere Rolle. Herkunft bestimmt immer weniger die Zukunft. Zukünftig wirken Wahlverwandtschaften, also freundschaftliche Verhältnisse. Einerseits.
Andererseits werden freundschaftliche Verhältnisse gegenwärtig flächendeckend ausgebeutet und entwertet. Wer mit allem und jedem befreundet sein will, weil man anscheinend gar nicht genug Freunde vorzeigen kann, der wildert nicht selten unverhohlen als Freundesjäger und -sammler in den sogenannten sozialen Netzwerken, um den nächstbesten Kandidaten als erbeutete Trophäe an die digitale Pinnwand zu heften. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen entsprechender Freundschaftsanfragen lauten kurz und bündig: 1. Ich will von dir profitieren! 2. Du kannst von mir profitieren! 3. Lass uns doch voneinander profitieren!
Derartige Beziehungen überhaupt Freundschaften zu nennen, ist nur in einer Zeit möglich, die freundschaftliche Beziehungen überall einfordert: zwischen Vorgesetzten und Untergebenen ebenso wie zwischen Lehrern und Schülern, Ärzten und Patienten, Eltern und Kindern. Freunde sollt ihr sein, heißt es allenthalben, und ganz unabhängig davon, wie distanziert und professionell, wie nah und familiär Verhältnisse auch sein mögen, sie kommen inzwischen nicht umhin, sich ebenfalls als Freundschaften auszugeben.
Kurzum: So gut der Ruf der Freundschaft auch sein mag, so grell dieser Begriff vor allem und ausgerechnet am Wertehorizont der Generation aufleuchtet, die ein Sachbuchbestseller kürzlich als „beziehungsunfähig“ charakterisierte – was Freundschaft tatsächlich bedingt und bedeutet, woher sie kommt und wohin sie geht, das bleibt angesichts ihrer allgegenwärtigen Beschwörung eher im Dunkeln. Werfen wir also ein Licht darauf!
Zunächst zur Geschichte: Wer den Begriff der Freundschaft erhellen will, der ist bei den alten Griechen nicht falsch. Im Gegenteil: Während Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik die Lustfreundschaft, die sich auf spontane Leidenschaften gründet, und die Nutzenfreundschaft, die ausgeklügelt kalkuliert, scharf von der wahren Freundschaft trennt, die den anderen um seiner selbst willen, den Freund um des Freundes willen anerkennt, lässt Platon die Figuren seiner Dialoge immer wieder um das Thema der Freundschaft kreisen – allen voran Sokrates, der auf eigene Besserwisserei verzichtet, um seinen Gesprächspartnern zu eigenen Einsichten und der Geburt ihres höheren Wesens zu verhelfen.
Insofern man die sokratische Geburtshilfe als Freundschaftsdienst begreift, ist Freundschaft hier sogar weit mehr als ein bloß immer wiederkehrendes Motiv: Freundschaft ist eine Haltung, ja eine Gesinnung, die Erkenntnisfragen überhaupt erst fruchtbar werden lässt. Die antike griechische Philosophie ist, so gesehen, nichts anderes als ein großer Freundschaftsdienst – und genau deshalb heißt das, was dort praktiziert wird, ja auch Philosophie. Der Philosoph ist wortwörtlich der Freund oder
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Liebhaber der Weisheit, ohne dessen erotischer Hingabe sich das Denken nicht ereignen kann. Diesen Umstand schildert der Philosoph Byung-Chul Han in seinem Büchlein Agonie des Eros (2012) klar und deutlich:
„Eros wird bei Platon philosophos, Freund der Weisheit, genannt. Der Philosoph ist ein Freund, ein Liebhaber. Dieser Liebhaber ist aber keine äußere Person, kein empirischer Umstand, sondern eine ‚innere Gegenwart im Denken, eine Möglichkeitsbedingung des Denkens selbst, eine lebendige Kategorie, ein transzendentales Erleben‘. Das Denken im emphatischen Sinne hebt erst mit Eros an. Ein Freund, ein Liebhaber muss man gewesen sein, um denken zu können. Ohne Eros verliert das Denken jede Vitalität, jede Unruhe und wird repetitiv und reaktiv. Der Eros innerviert das Denken mit dem Begehren nach dem (…) Anderen.“ (Han 2015: 66f.)
Nicht zuletzt deshalb ist die platonische Philosophie dialogisch: Es ist stets der andere, der mich zu eigenen Einsichten und zu mir selbst führt, wenn wir uns freundschaftlich zugeneigt sind. Das Denken ereignet sich zwischen uns – im Raum der Freundschaft. Freundschaft ist nicht alles, aber ohne Freundschaft ist alles nichts – so ließe sich ein Grundzug der antiken griechischen Philosophie zusammenfassen. Damit korrespondiert übrigens die politische Situation der Polis, in der sich freie Bürger ebenbürtig begegnen und bei aller Auseinandersetzung auf das gegenseitige Wohlwollen angewiesen sind.
Und wie geht es in Sachen Freundschaft danach weiter? Im antiken Rom widmet sich allen voran Cicero Wert und Wesen der Freundschaft – etwa in seiner Abhandlung Laelius de amicitia, die übrigens ebenfalls als Gespräch dreier Protagonisten dialogisch aufgebaut ist. Mit dem aufkommenden Christentum geht der Vorzug weltlicher Freundschaft jedoch verloren. Augustinus, einer der Architekten dieser Transformation, argumentiert, dass der Freund nicht mehr unmittelbar um seiner selbst willen, sondern mittelbar in Gott geliebt werden müsse. Die Gottesliebe wird nun zum ebenso verbindenden wie spaltenden Element zwischen den Menschen.
Es dauert einige Jahrhunderte, um nicht zu sagen ein gutes Jahrtausend, bis die weltliche Freundschaft im Zuge von Renaissance, Aufklärung, Humanismus und Idealismus einen neuen Höhepunkt erreicht. Bis dahin gilt – neben dem Primat der Gottesliebe –, dass zwischen erworbener und angeborener Freundschaft kaum unterschieden wird. Freundschaft und Verwandtschaft sind mehr oder weniger ein und dasselbe. Freunde besuchen heißt Verwandte treffen. Wenn man mit jemandem freundschaftlich verbunden ist, dann ist man schon oder wird alsbald mit ihm verwandt. Die Heiratspolitik der Ständegesellschaft spricht in dieser Hinsicht Bände. Dass Freundschaftspolitik Familienpolitik ist, darüber herrscht jahrhundertelang Einigkeit. Dass Freundschaft als länder- und ständeübergreifende Seelenverwandtschaft sich der Blutsverwandtschaft widersetzen, ja diese gar transzendieren kann, dies ist eine revolutionäre Idee, die im Zuge moderner Vorstellungen wie der Einzigartigkeit des Individuums und der Gleichheit aller Menschen geboren wird.
Vor allem die Epoche, die literarisch als Weimarer Klassik und philosophisch als Deutscher Idealismus bezeichnet wird, ist reich an Beispielen dieser ganz neuen Art der Freundschaft. Und wer unter den Beispielen im späten 18., frühen 19.
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Jahrhundert ein herausragendes sucht, der findet es eben in Weimar, wo die beiden Freunde als Denkmal noch heute vereint vor dem Deutschen Nationaltheater stehen: Goethe und Schiller. Um die freundschaftliche Sache weiter zu erhellen, lohnt es sich, diese Dichterfreundschaft genauer anzuschauen.
Zunächst ist bemerkenswert, dass der Freundschaft von Goethe und Schiller nicht persönliche Zuneigung, sondern gegenseitige Abneigung vorausgeht. Sie sind Konkurrenten, ehe sie Freunde werden. Erst als sich 1794 ein fruchtbares Gespräch über die Idee der Urpflanze ergibt, beginnt die freundschaftliche Annäherung. Und damit ein Briefwechsel, der bis zu Schillers Tod 1805 nicht abreißt – und sich zu immer neuen Höhen aufschwingt. Dass die Freundschaft der beiden schließlich gelingen kann, liegt nicht zuletzt daran, dass sie sich gegenseitig freilassen und den jeweils anderen nicht in Besitz nehmen. Trotz aller Freundschaft gilt: Goethe bleibt Goethe. Schiller bleibt Schiller. Und dennoch steigern sich beide im freundschaftlichen Verhältnis – und wachsen dabei über sich hinaus.
Der Schriftsteller Rüdiger Safranski hat nicht nur eine große Goethe- und eine große Schiller-Biografie vorgelegt, sondern zugleich deren Freundschaft ein eigenes Buch gewidmet. Es trägt den Titel: Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft (2009) – und darin fasst Safranski die Bedeutung der Freundschaft für Goethe und Schiller wie folgt zusammen:
„Goethe bekannte einmal, dass die so bedeutend klingende und kanonische Anweisung ‚Erkenne dich selbst‘ ihm stets verdächtig vorgekommen sei, weil man beim Blick auf sich selbst niemals genau unterscheiden könne zwischen dem Gefundenen und dem Erfundenen. Er empfiehlt den Umweg über die Welt, denn der Mensch kennt nur sich selbst, sofern er die Welt kennt und von ihr erkannt wird. (…) In dieser Hinsicht musste Schiller für ihn ein Glücksfall sein. Einen besseren Bewusstseinsspiegel konnte er kaum finden als bei Schiller, diesem Reflexionsgenie. Goethe nahm Schiller in Anspruch, um einiges Licht in sein überreiches Innenleben zu bringen. Warum war es überreich? Ganz einfach: Weil er so viel Welt in sich aufgenommen hatte. Anders Schiller. Er klagte über einen Mangel an Welterfahrung. (…) Schiller (…) hatte überschüssige Reflexionskraft. Seine geistige Potenz wurde von seinem Erlebnisstoff nicht vollständig aufgebraucht. Er konnte sie dem Freund zur Verfügung stellen, um diesem als Spiegel zu dienen und sich selbst mit Welt anzureichern. (…) Die beiden ergänzten sich auf wunderbare Weise: der eine sorgte für Helligkeit und Bewusstheit, der andere für schöpferische Verbindung mit dem Dunklen und Unbewussten. Die beiden Regionen – Idee und Erfahrung, Freiheit und Natur, Begriff und Vieldeutigkeit – zusammenzuführen, war ihr gemeinsames Ideal. Sie selbst und noch mehr die Nachwelt nannte es – das Klassische.“ (Safranski 2015: 14f.)
Goethe und Schiller beschenken sich reichlich und verdanken einander viel. Und beide erfreuen sich daran – am jeweils anderen und daran, dass sie gemeinsam wachsen und gedeihen können. Sie erleben ihre Freundschaft als Glück und Gewinn – als erfolgreiche Zusammenarbeit bei der Selbstentwicklung. Rüdiger Safranski resümiert:
„Schiller nennt eine solche Freundschaft ein ‚auf Perfektibilität gebautes Verhältnis‘, und Goethe, wenn er den Ertrag der Freundschaft mit einem Wort bezeichnen wollte, erklärte, sie habe ihn ‚gefördert‘. Es handelt sich also um einen Bund zur
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wechselseitigen Hilfe bei der Arbeit an sich selbst, ein gemeinsames Unternehmen der Selbststeigerung. Die Geschichte der Freundschaft von Goethe und Schiller ist eine praktische Probe aufs Exempel der Bildungsidee im Zeitalter der deutschen Klassik.“ (Safranski 2015: 14)
Wäre die Freundschaft von Goethe und Schiller nicht möglich gewesen, das klassische Bildungsideal wäre entschieden blasser geblieben. Denn dieses Ideal entwickelt sich nicht im luftleeren Raum, nicht im akademischen Elfenbeinturm, nicht in politischen Grabenkämpfen, sondern in freundschaftlichen Beziehungen – allen voran jener von Goethe und Schiller. Das Klassische als das Praktische: So erscheint es angesichts dieser Freundschaft, angesichts des freien Geisteslebens, das diese beiden freien Geister stiften.
Die Freundschaft von Goethe und Schiller offenbart einen Dreiklang der Freundschaft, der aus Selbstvergewisserung, Selbstverwandlung und Selbststeigerung besteht. Zunächst vergewissern sich beide ihres Eigenseins aufgrund der Andersartigkeit des anderen. Die Eigenheit wird im Spiegel des anderen bestärkt – und zugleich als Einseitigkeit, als Beschränkung erfahren. Dieser Mangel ruft zu einem nächsten Schritt auf: zu einer Selbstverwandlung, die der andere anregt und auslöst, die aber nur von jedem selbst vollzogen werden kann. Schließlich übersteigt sich das alte Selbst und wächst dem anderen entgegen – es findet sich neu, ohne sich ganz zu verlieren. Ich werde ein anderer, wenn der andere mich zu Selbstvergewisserung, Selbstverwandlung, Selbststeigerung veranlasst.
Treten wir nun einen Schritt zurück und schauen nochmal von außen auf das Phänomen der Freundschaft, wie wir es anhand von Goethe und Schiller exemplarisch veranschaulicht haben. Was für diese und nicht nur für diese Freundschaft wesentlich ist, formuliert der Philosoph Klaus-Dieter Eichler in seinen Überlegungen Zu einer „Philosophie der Freundschaft“ (1999), indem er das freundschaftliche Verhältnis als ein Wechselspiel von Nähe und Distanz, als ein Wagnis in Sachen Offenheit und Vertrauen und nicht zuletzt als einen Bund darstellt, der jenseits von Gleichheit und Ungleichheit zwei Individualitäten miteinander verbindet. Was das Wechselspiel von Nähe und Distanz betrifft, so schreibt Eichler:
„Die Gestaltung der Wechselseitigkeit der Freundschaftsbeziehungen ist dort am dauerhaftesten möglich, wo der Spielraum zwischen Distanz und Nähe die Freunde frei sein lässt von der einseitigen Okkupation des Einen durch den Anderen wie auch von der heroischen Tat der Aufopferung für den Freund. (…) Die in einer Freundschaft vorhandene besondere Form von ‚freier Liebe‘ hat eine Dialektik: Selbstbewusstsein und damit der Genuss eines selbstgeführten Lebens lassen sich nur gewinnen durch die Relativierung seines Für-sich-Seins, um im ‚anderen bei sich zu sein‘. Wahre Freundschaft ist die Sorge um das Aufgehobensein des Freundes in mir und ein Aufgehobensein in der Sorge des Freundes um mich.“ (Eichler 1999: 221ff.)
Und wie kommunizieren wahre Freunde miteinander? Indem sie das Wagnis eingehen, sich dem anderen zwar nicht auszuliefern, aber dennoch bedingungslos zu öffnen; indem sie es wagen, einander die Wahrheit zu sagen. Dazu heißt es bei Eichler:
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„In der freundschaftlichen Kommunikation den anderen als Selbst zu achten, wie sich selbst frei wählen zu können, impliziert das Bewahren von Eigenständigkeit auf beiden Seiten. Die in Freundschaft Verbundenen müssen einer Distanz zustimmen und zwei bleiben wollen, was sogar Einsamkeit im Miteinandersein bedeuten kann. (…) Im Gespräch der Freunde ist die Gefahr des Scheiterns stets präsent. Das Wagnis der Offenheit gilt nicht nur für den Anfang der Freundschaft, sondern immer. Es besteht darin, das eigene Inkognito aufzugeben, ohne sich der Ankunft in der ‚Sicherheit‘ vertraulicher Gemeinsamkeit gewiss zu sein. (…) Vom Freund nimmt der Freund die Wahrheit über sich selbst entgegen. Das ‚Alles-sagen-Können‘ gehört zur Offenheit innerhalb der freundschaftlichen Beziehung. Es erzeugt ein solches Maß an Vertrautheit, das dazu führt, dass sich der Freund in der Gegenwart des anderen zuhause fühlt.“ (Eichler 1999: 227f.)
Wer in der Gegenwart des anderen zu sich selbst kommt und von diesem die Wahrheit über sich selbst erfährt, der ist nicht bloß bei der freundschaftlichen Kommunikation, sondern bereits bei der freundschaftlichen Kommunion angelangt, die zwei einzigartige Individualitäten jenseits von Gleichheit und Ungleichheit, jenseits von Tausch und Hierarchie persönlich zusammenführt:
„Freundschaft beruht weder auf Gleichheit noch auf Ungleichheit der daran Beteiligten. Nicht auf Gleichheit, weil diese Gemeinschaften nur als Systeme von Gegenleistungen beschreibt, aber auch nicht auf Ungleichheit, da diese soziale Hierarchien impliziert und nur allzu schnell das Band der Freundschaft zum Joch der Hörigkeit oder zu den Fesseln der Gefolgschaft werden kann. Diese Aporie verweist auf die Einzigartigkeit der ‚wahren‘ Freundschaftsbeziehung. Einen wesentlichen Hinweis auf deren Auflösung gibt Aristoteles. Es ist unmöglich, so heißt es, mit ‚vielen befreundet zu sein‘. Freundschaft ist eine Beziehung zu einem ‚Einzigen‘. Es ist die Ungleichheit des je Einzigen und nicht eine brüderliche Gemeinsamkeit, wie sie nur ein Blick von außen auf die Freunde registriert, die die Unvergleichbarkeit impliziert. Aus diesem Grund sind die Subjekte der Freundschaft nicht auf die abstrakt gleichen Subjekte des Tausches reduzierbar.“ (Eichler 1999: 238)
Eichler formuliert in diesen Zeilen eine Arithmetik der Freundschaft. Sie besagt: Ich kann zwar mit vielen befreundet sein, aber dennoch ist der Freund als Freund immer der Einzige. Nicht im nominellen, wohl aber im existenziellen Sinne zielt Freundschaft immer auf den Einzigen. In der Freundschaft sind zwei einzigartige Existenzen jenseits von Selbstbezüglichkeit und Selbstlosigkeit durch etwas Drittes verbunden: durch das freundschaftliche Band, das zwischen ihnen geknüpft wird. Ich und Du finden sich in einem gemeinsamen Wir gesteigert. In dieser Hinsicht erweist sich Freundschaft als doppelt subversiv: einerseits, indem sie eine Gemeinschaft jenseits der Gesellschaft und damit auch jenseits von Nation, Konfession und Profession stiftet; andererseits, indem sie den modernen moralischen Universalismus zu einem ethischen Individualismus fortbildet, der sich weder am Allgemeinen noch am Besonderen, sondern jenseits von moralischer Willkür- oder Vetternherrschaft am Einzelfall orientiert. Die Philosophie der Freundschaft klingt auf diese Weise mit einer Philosophie der Freiheit zusammen. Denn Freisein bedeutet ursprünglich bei Freunden sein. Freiheit ist ein Beziehungswort: Wirklich frei bin ich erst in einer gelingenden Beziehung, in einem beglückenden Zusammensein, in einem freundschaftlichen Verhältnis mit anderen.
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Springen wir nach diesen historischen, exemplarischen und systematischen Ausführungen nun wieder mitten hinein in die Gegenwart. Was ist in unserer eingangs geschilderten freundschaftsfreudigen Zeit eigentlich das Problem mit der Freundschaft? Zu dieser Frage veröffentlichte der Autor Till Raether im November 2017 einen Essay im Magazin der Süddeutschen Zeitung. Darin heißt es:
„Als ich aufwuchs, erlebten Freunde zusammen Abenteuer. (…) Freunde hatte man, um der Welt nicht allein gegenübertreten zu müssen. Heute hat man Freunde, um sich nicht allein vor der Welt zurückziehen zu müssen. (…) Das Bild ist heute, dass Männer Freundschaften haben wie in der Bierwerbung und Frauen wie in der Proseccowerbung. Du kommst in die Kneipe, da stehen deine Freunde alle schon am Tresen, sie haben dir auch schon ein Bier bestellt, und ihr bildet so eine kleine, ganz dichte Traube, die verhindert, dass jemand Fremdes sich dazustellt, dass die Welt irgendwie da eindringen könnte. Ein Hoch auf uns! Oder du liegst halt mit deinen Freundinnen auf dem Sofa, und ihr kichert und macht eine Kissenschlacht oder lackiert euch die Nägel. Und wenn ihr eine gemischte Freundesclique seid, dann klaut entweder einer die Chips, unerhört, oder bringt Küsschen mit, toll, aber der Blick geht nach innen, in die Tüte, das Glas oder die HD-Glotze. Im Grunde ist Freundschaft nur noch Hygge mit Ersatzfamilienanschluss.“ (Raether 2017)
Ist es tatsächlich so weit gekommen? Ist Freundschaft anstatt eines offenen Abenteuers eine geschlossene Gesellschaft geworden, um nicht mit sich selbst allein und vor der Welt geschützt zu sein? Weltflüchtige Wahlverwandtschaft mit Standesdünkel? Nostalgisch-sentimentale Kitschkommune? Selbst wenn es tatsächlich so weit gekommen sei, zumindest ursprünglich verlange Freundschaft noch etwas anderes, so Raether. Denn es seien ja immer noch Mut und Risiko, Offenheit und Vertrauen gefragt, um anderen überhaupt freundschaftlich begegnen zu können:
„Wenn aber die Freundschaft von vornherein so viel Mut erfordert, wenn sie solch ein Risiko ist – dann ist es doch ein Jammer und eine Schande, all den Mut nur zu nutzen, um so was bräsig Bierseliges daraus zu machen, die Freundschaft als Entmüdungsbecken, in dem man sich wieder Kraft holt für die nächste Runde in der Disziplin, sich von der feindlichen Welt die Fresse polieren zu lassen. Liegt ein Unbehagen an der gegenwärtigen Idee von Freundschaft vielleicht daran, dass wir uns jetzt wirklich lange genug zurückgezogen haben? (…) Warum ist das gegenwärtige Ideal der Freundschaft das gemeinsame Wochenende im Spa, warum nicht die gemeinsame Beschwerde beim cholerischen Chef, die gemeinsame Konfrontation mit dem sexistischen Bekannten, das gemeinsame Sortieren von Kleiderspenden? (…) Traditionell gilt die Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft. Aber wie oft ist uns vorgebetet worden, dass Freunde die neue Familie seien. Vielleicht müssen wir inzwischen sagen: Die Freundschaft ist die kleinste Zelle der Gesellschaft, und von ihr aus fangen wir an, die Gesellschaft so zu machen, dass wir uns nicht mehr so sehr von ihr erholen müssen.“ (Raether 2017)
Freundschaft nicht als Privatvergnügen, sondern als öffentliches Gut; als Weltverbesserung, nicht als Besserwisserei. Das sind ermutigende Perspektiven, die Raether der freundschaftlichen Wahlverwandtschaft abgewinnt. Doch nehmen wir hier abschließend eine Frage ernst, die Raether zu Beginn seiner Ausführungen stellt: Warum sind eigentlich meine Freunde meine Freunde – und andere Menschen nicht? Mit welchem Recht bevorzuge ich diese Menschen vor jenen? Kurzum: Ist
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Freundschaft nicht im Grunde genommen asozial, solange sie sich nicht als Bereitschaft zur Freundschaft mit jedem Einzelnen versteht?
Freilich ist die abstrakte Allerweltsfreundschaft ebenso perspektivlos wie die weltflüchtige Ersatzfamilienfreundschaft. Dennoch wird es künftig vielmehr darauf ankommen, dass wir eine Wachheit an den Tag legen, die uns wesentliche Begegnungen nicht verpassen lässt. Dazu gehört auch eine gewisse Flexibilität in Freundesangelegenheiten, die nichts mit Opportunismus oder Karrierismus zu tun hat. Wir selbst sind uns heutzutage längst fremd und unverfügbar geworden; wir selbst sind es, die sich dieser Tage unentwegt neu entwerfen und positionieren – sodass sich freundschaftliche Beziehungen eigentlich nur noch zwischen Fremden einstellen. Freunde sind längst nicht mehr einfach nur andere, sondern tatsächlich Fremde geworden.
Während die antiken Griechen einander noch vertraut und die Barbaren ihnen fremd gewesen sind, so sind wir dieser Tage vor uns selbst und den anderen jeweils nichts anderes als Barbaren: Fremdlinge, die um Worte ringen, die sich stammelnd selbst zu vergewissern und verständlich zu machen versuchen. Meine Freunde sind in dieser Situation all die anderen Fremden, denen ich auf diese oder jene Weise wesentlich begegne. Freundschaft ist in diesem Sinne nicht mehr ausschließlich ein mehr oder weniger stabiler Beziehungsstatus, sondern zugleich eine Momentaufnahme, ein Augenblick, ein Wimpernschlag. Damit Freundschaft unter diesen Bedingungen gelingen kann, bedarf es meiner Bereitschaft, die eigene Verlassenheit zu verlassen und den anderen meine prekäre Individualität nicht vorzuenthalten. Mit anderen Worten: es bedarf dazu der Gastfreundschaft, der Freundschaft unter Fremden. Dazu schreibt der Kulturwissenschaftler Robin Schmidt in seinem Essayband Orte der Geistesgegenwart (2017):
„Eine Sozialität der Individualität beruht auf Vorgängen der Gastfreundschaft. Ihr Gelingen hängt von einer Form von Austausch und Haushaltung ab. (…) Haushaltung ist griechisch Ökonomie. Brauchte man in Griechenland Selbsterkenntnis (…), um das schon vorhandene Soziale zu gestalten, braucht es heute eine Ökonomie der Gastfreundschaft, die eine andere Sozialität hervorbringt. Gastfreundschaft beruht so auf einer Ökonomie der Anderheit. Die Ökonomie der Gastfreundschaft zählt nicht, sondern erzählt. Sie träumt nicht von Gewinnen, sondern sie gewinnt neue Träume. Sie bilanziert nicht, sondern bindet. Sie tauscht keine Waren, sondern schenkt Wesen Wesen.“ (Schmidt 2017: 31)
Ich kann von anderen wesentlich beschenkt werden, wenn ich ihnen mein eigenes Wesen nicht vorenthalte. Das ist der erste Lehrsatz einer Ökonomie der Gastfreundschaft, die Fremde miteinander verbindet. Der große Wurf, der einem gelingt, wenn es möglich wird, eines Fremden Freund zu sein, verdankt sich vielleicht nur einer kleinen Geste, nur einem kurzen Moment der Aufmerksamkeit, und ist dennoch wesentlich. Warum sollte diesen Augenblicksfreundschaften nicht zugesprochen werden, in Sachen Freundschaft ebenso von Belang zu sein? Wer Freundschaft nicht in diesem Sinne mit Fremdheit zusammendenken will, der bleibt letztlich bei der Scheinalternative von abstrakter Allerweltsfreundschaft und weltflüchtiger Ersatzfamilienfreundschaft stehen und verpasst wesentliche Begegnungen.
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Wenn ich bedenke, wer ich dank anderer geworden bin, dann vergewissere ich mich der Wirklichkeit der Freundschaft. Und wenn ich mir vornehme, auf diese Weise auch für andere da zu sein, dann schreibe ich die Geschichte der Freundschaft fort.
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