Selbst - Bildung . J. Kegelmann : Musterschüler - Was Schulen und Hochschulen heute leisten müssen

 

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J. Kegelmann : Selbst - Bildung
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 Selbst - Bildung . J. Kegelmann : Musterschüler - Was Schulen und Hochschulen heute leisten müssen

Charakteristik
Die Idee der Vervollkommnung des Menschen durch sich selbst.  (Kant)
*
Anders Platon, nicht umsonst der Schüler von Sokrates. Er sucht nicht. Er hat
gefunden. Sein Grundgedanke: Jedem Gegenstand vom kleinsten bis zum größten,
dem Sein, liegt eine Idee, ein Bild (ein „Eidos“) zugrunde, das einem Ur-Bild folgt.
Ziel ist die „Erleuchtung“ des Menschen, das Hervortreten aus dem Dunkel der
Täuschung und Abbilder in das Licht des Maßgeblichen: des Schönen, des Wahren,
des Guten, des Einen. In seinem Höhlengleichnis beschreibt Platon sowohl Ziel wie
auch den Weg mit seinen Strapazen zum Ur-Bild, der eigentlichen Idee hinter den
Wahrnehmungen und damit verbundenen Irrtümern und Täuschungen.
Mit Platon können wir lernen: Bildung braucht eine Idee, eine „Vision“ ein „Bild“. Bei
Platon sind es sogar „transzendente“ Bilder, d.h. Bilder, die ewig, überzeitlich und
damit das Immanente „überschreitend“ sind.
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ÜBERSICHT
Früher war der "Musterschüler" der Brave, der alles auswendig gelernt hat. Er wurde als Nürnberger Trichter gesehen. Heute ist der "Musterschüler" ein junger Mensch, der "Muster" erkennt und gestaltet. Als "Muster" bezeichnet man die mittlere Ebene zwischen "Abstraktion" (zu theoretisch) und "Konkretion" (zu praktisch), und der Musterschüler verbindet die akademische, eher verkopfte akademische Ausbildung mit der beruflich orientierten. Professor Jürgen Kegelmann, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler an der Hochschule Kehl, zeigt, warum der Musterschüler die Zukunft der Bildung verkörpert.
Sendung am So, 8.9.2019  8:30 Uhr, SWR2 Wissen, SWR2 
 
AUTOR/IN: Jürgen Kegelmann
https://www.swr.de/swr2/wissen/SWR2-Wissen-Aula-Musterschueler-Was-Schulen-und-Hochschulen-heute-leisten-muessen,swr2-wissen-aula-2019-09-08-100.html
SWR2 Wisssen: Aula
Musterschüler
Was Schulen und Hochschulen heute leisten
müssen
Von Jürgen Kegelmann
Sendung: Sonntag, 8. September 2019, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2019
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app

INHALT
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Musterschüler – Was Schulen und Hochschulen heute leisten
müssen.“ Am Mikrofon Ralf Caspary.
Deutschland ist Bildungsrepublik, jedenfalls reden alle über Bildung. Man fragt,
welche Bildung wollen wir, wie gebildet sind unsere Schüler und Studenten, was soll
Bildung leisten, wie sieht der Bildungsprozess aus? Jürgen Kegelmann ist Professor
für Organisation, Personal und Management an der Hochschule Kehl, und aufgrund
seiner Erfahrungen in diesen Bereichen skizziert er im Folgenden einen
Bildungsbegriff, der wiederum auf dem Begriff „Musterschüler“ basiert und die Pole
Abstraktion und Konkretion zusammenbringt:
Jürgen Kegelmann:
Vor zwei Wochen lese ich folgende Überschrift in der Zeitung: „Schüler schwächeln
in Deutsch und Mathe. Südwesten sackt im Bildungsranking ab“. Hintergrund ist der
Bildungsmonitor der Initiative Neue soziale Marktwirtschaft. Er vergleicht auf der
Grundlage von 93 Indikatoren die Bundesländer in Bildungsfragen. Diese und
ähnliche Nachrichten hört man derzeit oft, verbunden mit Hinweisen auf Kennzahlen
und Statistiken. Ob nun PISA oder andere Vergleichsstudien: Sie sind Ausfluss einer
empirischen Bildungsforschung, die auf der Idee beruht, dass Bildung und vor allem
ihre Wirkungen im Detail empirisch vermessen werden können. Mich persönlich
befremden diese Studien ein wenig. Sie erinnern mich an einen Satz von Einstein,
der sagte: „Nicht alles, was zählt, kann gezählt werden, und nicht alles, was gezählt
werden kann, zählt.“
Da ich selbst Hochschullehrer bin, bin ich in der Praxis mit Bildungsfragen
konfrontiert. Von Hause aus bin ich Verwaltungswissenschaftler und damit ziemlich
„gebildet“ in Sachen Organisation & Verwaltung. Vor allem der Kommunalverwaltung.
Ganz kurz zu meiner Bildungsbiographie: Nach dem Abitur habe ich das
Handwerkszeug der Verwaltung bei der Stadtverwaltung Mosbach und an der
Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl gelernt. Dieses Handwerkszeug konnte
ich dann zwei Jahre bei der Stadt Karlsruhe einbringen, bevor ich an die Universität
Konstanz ging, wo ich stark, auch theoretisch, über die öffentliche Verwaltung
reflektierte. Als Berater in Sachen Verwaltungsmodernisierung war es mir ein
Anliegen, konkrete Veränderungsprozesse in Städten und Gemeinden anzustoßen
und umzusetzen. Seit 2009 bin ich nun in verschiedenen Rollen an der Hochschule
für öffentliche Verwaltung Kehl tätig.
Warum sage ich das? Warum so viel „autobiographische Bildungshinweise“ zu
Beginn des Vortrags? Weil in dem Wort „Biographie“ das Wort „graphein“ steckt, was
so viel wie „Schreiben“ heißt. Ich, wie auch wir alle, „schreiben“ also unser eigenes
Leben. Dabei werden die „Spuren“ früh gelegt und vielleicht lernen wir, wenn es gut
läuft in der Schule und dem Studium, nicht nur formal und technokratisch das „Lesen,
Rechnen und Schreiben“, sondern auch, wie wir unser eigenes Leben bilden, formen
und führen wollen. Das eigene Leben „Schreiben“ lernen, also im übertragenen
Sinne, um mit uns selbst, mit anderen Menschen und der Welt verantwortlich
umzugehen.
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Drei Spuren möchte ich in den kommenden Minuten folgen: Unter dem Stichwort
„Bildungsbilder“ möchte ich erstens aufzeigen, dass wir alle, was Bildung
anbelangt, auf den Schultern von „Riesen“ stehen. Denn seit Jahrtausenden haben
Menschen über das Thema nachgedacht und wichtige Impulse gegeben, die bis
heute fortwirken. Diese Bilder möchte ich chronologisch nachzeichnen und zu einer
Quintessenz verdichten. Danach werde ich, zweitens, einen aktuellen
„Bildungsbefund“ präsentieren, gespeist aus der eigenen Erfahrung und
Anschauung aus meiner Praxis an der Hochschule. Und daraus werde ich drittens
einige „Bildungsimpulse“ ableiten. Herkunft, Ankunft, Zukunft sozusagen. Rück-
Sichten, An-Sichten, Vor-Sichten. Ziel ist die „Durchsicht“, das „Durchschauen“ des
Bildungsdschungels.
Bildungsbilder
Es wäre ein unmögliches Unterfangen, auch nur annähernd, alle vergangenen
Bildungsriesen vorzustellen. Ich werde mich deshalb exemplarisch auf einige
beschränken und auch die Vorstellung selbst sehr kurz zu halten. Es geht mir darum,
jeweils einen wichtigen Grundgedanken herausarbeiten, der dann als Maßstab für
meinen Befund und den vorgeschlagenen Impuls dient.
Antike
Fangen wir mit den drei antiken Griechen Sokrates, Plato und Aristoteles an. Für
Sokrates, der im Übrigen unter anderem wegen des Vorwurfs der Verführung der
Jugend hingerichtet wurde, steht am Anfang des Wissens das Nicht-Wissen, das
Unwissen und der Zweifel. Um es mit Laotse zu sagen: „Nichtwissen ist wahres
Wissen. Anzunehmen man wisse, ist eine Krankheit. Sieh zunächst ein, dass du
krank bist; dann bist Du auf dem Weg zur Gesundheit. Hannah Arendt hat Sokrates
deshalb den „Ausräumungskünstler“ des Denkens genannt, der frei macht von
schnellen Vorurteilen, Meinungen und vermeintlichen Wissensbeständen. Mit der
Erkenntnis des Nichtwissens und mit der Infragestellung alles Wissen fängt Bildung
an. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist deshalb das von Sokrates überlieferte
Sprichwort. Sokrates „rät“ nicht, er führt in die Ratlosigkeit, er gibt keine schnellen
Antworten, sondern stellt Fragen. Er hat noch nicht gefunden, er sucht noch und hilft
als „Määutiker“, als Hebamme, als „Entbindungskünstler“, den Menschen von seinen
(vermeintlichen) Wissensbindungen zu befreien.
Mit Sokrates können wir lernen: Bildung fängt mit Unwissen an, stellt Fragen,
bezweifelt, sucht. Bevor wir lernen, müssen wir verlernen, bevor wir gebildet werden,
gilt es, sich zu ent-bilden.

Ganz anders Platon, nicht umsonst der Schüler von Sokrates. Er sucht nicht. Er hat
gefunden. Sein Grundgedanke: Jedem Gegenstand vom kleinsten bis zum größten,
dem Sein, liegt eine Idee, ein Bild (ein „Eidos“) zugrunde, das einem Ur-Bild folgt.
Ziel ist die „Erleuchtung“ des Menschen, das Hervortreten aus dem Dunkel der
Täuschung und Abbilder in das Licht des Maßgeblichen: des Schönen, des Wahren,
des Guten, des Einen. In seinem Höhlengleichnis beschreibt Platon sowohl Ziel wie
auch den Weg mit seinen Strapazen zum Ur-Bild, der eigentlichen Idee hinter den
Wahrnehmungen und damit verbundenen Irrtümern und Täuschungen.
Mit Platon können wir lernen: Bildung braucht eine Idee, eine „Vision“ ein „Bild“. Bei
Platon sind es sogar „transzendente“ Bilder, d.h. Bilder, die ewig, überzeitlich und
damit das Immanente „überschreitend“ sind.
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 Auch wenn viele moderne Zeitgenossen
die Transzendenzdimension als sogenannte „aufgeklärte“ Menschen ablehnen, dann
können wir dennoch fragen, was es heißen könnte, dass Bildung ein normatives
Element hat und sich an Fragen der Ästhetik, der Wahrhaftigkeit, des Guten und der
Einheit orientiert. Bis heute heißt es „Universität“, was von „universitas“ kommt und
so viel heißt wie „Rückkehr zum Einen“. Aber wir sehen auch die Gefahr eines
womöglich geschlossenen theoretischen Systems. Von einer Ideologie reden wir,
wenn ein Bild, in sich geschlossen und von den Bilder- und Bildungsvertretern nicht
verhandelbar ist. Dann wird aus Unum (Einheit und Ganzheit) Totum und
Totalitarismus.
Da loben wir uns doch Aristoteles. Auch er kennt ein Ziel der Bildung, die
eudämonia, das Glück des gelingenden Lebens, das nur durch vernünftiges Handeln
erfolgen kann. Das wiederum erfordert detailliertes Wissen und ein intensives
Studium der Empirie, der Welt des Lebendigen. So verfügte Aristoteles in seiner
umfangreichen Bibliothek über alle damals vorhandenen 161 bekannten
Staatsverfassungen und wertete diese systematisch aus. Nicht die Idee, das Große
und Ganze steht im Vordergrund, sondern das praktische das Handeln und die
Erforschung des Details. Insofern ist Aristoteles der Vorläufer der empirischen
Wissenschaft, denn er analysiert und systematisiert die Welt der Erscheinungen, des
Realen und leitet daraus vernünftiges Handeln ab. Interessant, übrigens gerade für
mich als Verwaltungs- und Politikwissenschaftler, dass Aristoteles wie auch Plato
den Einzelnen eingebettet sah in die Polis, in die Welt der Gesellschaft und die
Gemeinschaft. Der Mensch ist nicht primär solitär, sondern ein „Zoon Politicon“, der
seine Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft stellt. Insofern ist Bildung und
Tugendhaftigkeit nicht selbstreferenziell, sondern gesellschaftlich relevant und von
höchstem ethischen Wert.
Mit Aristoteles können wir lernen, den Dingen genau, detailliert und gewissenhaft auf
den Grund zu gehen, zu analysieren, zu systematisieren und daraus Praxis und
Handlungen abzuleiten im Dienste, auch der Gemeinschaft und Gesellschaft.
Christentum und Mittelalter
Das Christentum steht einerseits ganz im Zeichen der Antike. Der Mensch ist das
Ebenbild Gottes (Imago Dei). Andererseits ist das Ur-Bild im Gegensatz zu den
antiken Vorstellungen keine transzendente Seinsidee, sondern der persönliche Gott
der Bibel, der Mensch wird in Jesus Christus. Christus ist das „Icon“, das „Bild“
Gottes, das uns Vorbild ist und in das wir uns hineinverwandeln dürfen. Dabei ist
diese Form der Bildung kein oder zumindest nicht nur ein aktives Tun, sondern ein
passives „sich verwandeln“ lassen. Es ist Gnade.
Dieser Bildungsidee folgt noch heute das orthodoxe Christentum. Ganz bekannt in
der russischen Orthodoxie sind „Ikonen“, die von Ikonographen gemalt oder besser
gesagt „geschrieben“ werden. Diese geschriebenen Bilder, oft Darstellungen von
Christus, sind Fenster zur Ewigkeit. Nicht der Mensch schaut in diesem Verständnis
das Bild an, sondern Christus selbst schaut durch das Bild hindurch den Betrachter
an. Bildung in diesem Sinne ist ein Sich-Verwandeln durch „angesehen werden“.
Ansehen kommt von Ansehen. Das ist das Wesen der Kontemplation und
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Betrachtung. Alle Mystiker wussten dies, kommt doch der Begriff von „myein“, was so
viel heißt wie „den Mund und die Augen schließen“. Das, was wir betrachten und
anschauen, verwandelt uns, formt uns, bildet uns. Es erfordert die Stille und die
Leere. Ich weiß, wovon ich spreche, war ich doch gerade auf einer Einkehr- und
Exerzitientagung auf dem Kloster Schwanberg und meine „Exercises“ und Übungen
bestanden darin zu schweigen, zur Ruhe zu kommen. Bevor es allerdings in einem
„still“ wird, rattert der Geist und die Gedanken gleich einer Hamsterrolle unaufhörlich
weiter. Aber die Hamsterrolle ist kein Glücksrad und es tut gut, irgendwann zur Ruhe
zu kommen. Eine kleine Ikone habe ich mir übrigens mit nach Hause genommen.
Renaissance und Aufklärung
Ist die Idee der Imago Dei die Verwandlung des Menschen in Gottes Bild, so
entwickelt sich in der Aufklärung und der Renaissance 

die Idee der Vervollkommnung des Menschen durch sich selbst.

Das ist der zentrale Grundgedanke von Immanuel Kant. 1784 beantwortet er die Frage
„Was ist Aufklärung“ wie folgt:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit".
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines
Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt. Sapere aude! Habe Mut, Dich
Deines eigenen Verstandes zu bedienen. Ziel ist die Freiheit. Bildung bedeutet
Vernunft, Mündigkeit, Emanzipation, Freiheit.“
Wilhelm von Humboldt (1767 bis 1835) schließlich erhebt die Bildung zum
umfassenden Programm gelingenden Mensch-Seins. Bildung hat primär keinen
materiellen Zweck, sondern dient der Ausbildung aller im Menschen angelegten
Anlagen, Befähigungen und Potentiale. Es geht um die Menschwerdung des
Menschen, um die Personwerdung der Person durch Bildung. Damit ist sie kein
„Machen“ im Sinne eines vorgegebenen Plans, sondern sie ist immer Selbst-Bildung
von „innen nach außen“. Auch wenn dieser Bildungsansatz individualistisch anmutet,
ist er nicht egozentrisch. Selbstbildung meint immer zwischenmenschliches
Eingebundensein und Weltbezogenheit. Mit Clemens Brentano könnte man sagen:
Der Mensch ist auf Erden sich zu bilden und dann wieder die Welt. Damit wirkt der
Selbst-Gebildete reformerisch an der geistigen und politischen Gestaltung der Welt.
Er übernimmt Verantwortung. Bildung, so verstanden, ist auch ein Maß für die
gelingende Wechselwirkung zwischen Individuum und Welt, meint somit eben kein
weltfremdes Sich-Selbst-Genügen, sondern vielmehr tätige und liebende
Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Lebenswelt und Umwelt. Bildung ist
Selbstreflexion, Mitmenschlichkeit und Verantwortlichkeit. Sie ist Kopf, Herz und
Hand (Pestalozzi) und sie packt die Herausforderungen der Zeit mutig und
konstruktiv an.
Moderne
Die Kernidee der Aufklärung war die der Mündigkeit und auch der Zweckfreiheit der
Bildung. Damit verbunden die freie Selbstentfaltung der individuellen Anlagen des je
Einzelnen. Dies widerspricht primär einer Funktionalisierung der Bildung als Mittel
zum Zweck. Aber auch das ist ein starkes Bildungsbild: Bildung als Funktion, als
Mittel zum Zweck, seien es wirtschaftliche Zwecke oder politisch-gesellschaftliche
Zwecke. Kennedy hat gesagt: „Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung,
keine Bildung.“ Das ist das Narrativ: Bildung als nützliches, ja unabdingbares Mittel
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um in einer konkurrenzorientierten Welt des Marktes und der Ökonomie mithalten zu
können. So hat die Europäische Union die Strategie ausgerufen, sich zum
wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt zu entwickeln.
Dies ist die utilitaristische Position. Sie frägt nach dem individuellen und
gesellschaftlichen Nutzen der Bildung. Lebenslanges Lernen soll individuell die
Employability, die Beschäftigungsfähigkeit sicherstellen: Kollektiv geht es um die
Zukunftsfähigkeit von Markt, Staat und Gesellschaft. Kernfrage ist: Welche
Kompetenzen gilt es zu entwickeln, um als Einzelner und Gesellschaft im
Wettbewerb erfolgreich und vorne zu sein. Bildung wird so zum Garant für die
Zukunftsfähigkeit, insb. des Marktes und des Staates.
Quintessenz:
Fassen wir zusammen: Die Bildungsbilder haben gezeigt: Es gibt nicht die Bildung an
sich. Bildung ist ein ambivalenter, ein mehr-wertiger Begriff. Es gibt verschiedene
Aspekte und Ansichten, die zueinander in einem Spannungsverhältnis stehen und
die zu je unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich betont wurden. Fünf zentrale
Essenzen bezogen auf Ziele und Weg der Bildung waren und sind:
1. Bildung als In-Frage-Stellung als Kritik als Skepsis als Nicht-Wissen, als
Suchbewegung versus Bildung, als Antwort, Wissen und Finden;
2. Bildung als Theorie, als Abstraktion, als Orientierung am Ganzen versus
Bildung als Praxis, als Konkretion und als Orientierung an der Empirie und am
Detail;
3. Bildung als Selbst- und Innenbildung vs. Bildung als Anspruch von „Außen“.
Damit auch verbunden das Spannungsfeld von Bildung als Selbstzweck vs.
Mittel zum Zweck. Oder:
4. Bildung als Weg und Ziel zu Freiheit, Mündigkeit und Autonomie vs. Bildung
als Anpassung, Entfremdungs- und Abhängigkeitserfahrung;
5. Bildung als Bildung von Kopf, Herz und Hand, Bildung als Denken, Fühlen und
Handeln.
All diese Bilder haben Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken. So kann es
sein, dass der mit Sokrates kritisch Fragende nie ins Handeln und Umsetzen kommt.
Oder aus Bildungsabstraktionen und Bildungsideen können schnell Ideologien
werden. Wer Bildungspolitik kennt, der weiß wie stark ideologiegefährdet
Bildungsdiskussionen sind. Da scheinen empirische Bildungsbefunde, die
Orientierung an scheinbar objektiven Zahlen, Daten und Fakten unverdächtig. Aber
irgendwann wird dann zurecht gefragt, wo denn eigentlich eine tragfähige Idee bleibt
und was Bildung wirklich will. Richtig schreiben, rechnen und lesen können führt
noch nicht zu Mündigkeit, Freiheit und Kritikfähigkeit. Und natürlich ist Bildung immer
auch Mittel zum Zweck, hat eine Funktion, einen gesellschaftlichen Zweck und
Nutzen. Insofern kann ich auch dem utilitaristischen Bildungsbild etwas abgewinnen.
Aber das Risiko besteht darin, dass die damit verbundene externe Verwertungs- und
Wettbewerbslogik zu Lasten einer inneren Freiheit, Mündigkeit, Kritikfähigkeit geht.
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Dann sind die Prägekräfte von außen dominant und das eigene Bild verkümmert und
wird verkrümmt.
Nun möchte ich auf der Grundlage meiner Hochschul- und Bildungserfahrungen
einen subjektiven (Hochschul-)Bildungsbefund, verknüpft mit zukunftsorientierten
Bildungsimpulsen geben. Er orientiert sich, wie könnte es anders sein, an einer Idee.
Sie leitet sich aus dem Begriff des Interesses ab. Wir sind uns einig, dass Bildung,
wenn es gut läuft, Interesse voraussetzt. Interesse kommt von Inter-Esse, was so viel
heißt wie „dazwischen sein“. Man sitzt zwar nicht gerne zwischen den Stühlen, aber
meine Bildungsthese und –erfahrung ist, dass es darum geht, die skizzierten
Spannungsfelder so zu verknüpfen, dass in aller Differenz und Unterschiedlichkeit
doch ein gemeinsames Ganzes und eine gegenseitige Bezogenheit entsteht.
Bildungsbefund und Bildungsimpuls
In meinem Studien- und Lehralltag stelle ich fest, dass von Anfang, schon in der
Entwicklung der Curricula darauf Wert gelegt wird, welche Lernziele erreicht und
welche Kompetenzen entwickelt werden sollen. Dabei beschreibt die sogenannte
Bloomsche Taxonomie sechs hierarchische, standardisierte Lehr- und Lernstufen:
Sie gehen über erinnern, verstehen, anwenden, analysieren, beurteilen und
schließlich schaffen bzw. schöpfen und entwickeln. Im Rahmen von Akkreditierungen
wird dann gefragt, inwieweit sich diese Lernstufen im Lehrplan wiederfinden. Selten
finden sich in Curricula Hinweise wie: „Die Studierenden sollen lernen, Fragen zu
stellen, sollen den angebotenen Lehrstoff kritisch hinterfragen und eine eigene
Haltung finden.“
Als ersten Lehrimpuls leitet sich für mich daraus: Haben Sie Mut zum kritischen
Hinterfragen. Bevor Sie Antworten geben, lernen Sie, Fragen zu stellen. Wie
wichtig Fragen sind zeigt folgende wunderbare Geschichte:
Zwei Mönche, grundsätzlich gottgefällig lebend, haben ein kleines Laster. Sie
rauchen beim Beten. Das schlechte Gewissen plagt sie und beide schreiben an den
Bischof, um ihn um Rat zu fragen. Als Antwort erhält der eine Mönch eine Erlaubnis,
der andere ein Verbot. Darüber wundern sich beide und der, dem das Rauchen
erlaubt wurde, frägt den anderen: „Was hast Du denn den Bischof gefragt?“ „Ich
habe gefragt, ob ich während des Betens rauchen darf“!“ „Und ich,“ antwortete der,
der die Erlaubnis bekommen hatte, „habe gefragt, ob ich während des Rauchens
beten darf!“
Kommen wir zum zweiten Bildungsimpuls, abgeleitet aus dem Spannungsfeld
Abstraktion und Konkretion, Theorie und Praxis. An unserer Hochschule in Kehl, das
ist unbestritten, steht die Praxisorientierung im Vordergrund. Man lernt das
Handwerkszeug der Verwaltung, weniger das theoretische Reflektieren über die
Verwaltung. Dies lernt man an der Uni, weshalb Wolfang Seibel, einer meiner wirklich
sehr verehrten Professoren in Konstanz, ein recht aktuelles Buch „Verwaltung
verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung“ geschrieben hat. Dieses schöne
Buch betont die Theorie. In Kehl „erfährt“ man Verwaltung, indem man Rathäuser
von innen erlebt und sie damit im wortwörtlichsten Sinne begreift. Man lernt das
Handwerkszeug der Verwaltung, verliert damit aber leicht die Distanz und kritische
Reflexionsfähigkeit. Dem Theoretiker wird vorgeworfen, dass er in seinem
Elfenbeinturm sitzt, abstrakt vor sich hinphilosophiert, aber nicht in die Umsetzung
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und Konkretion kommt. Der Praktiker wiederum ist so konkret, so am Detail orientiert,
dass er „den Wald vor lauter Bäumen“ nicht mehr sieht. Eine meiner
bildungstheoretischen und –praktischen Ur-Erkenntnisse war die: Zwischen Theorie
und Praxis, Abstraktion und Konkretion liegt eine Zwischenebene und dies ist die
Muster- und Patternebene.
Das Muster ist keine Theorie, es ist eine Ebene, die die Strukturen und Beziehungen,
die Verhältnisse in ihrem Zusammenhang erkennen und damit auch gestalten lässt.
Ein „Musterschüler“, wie ich ihn verstehe, ist nicht jemand, der auswendig lernt,
angepasst und lernwillig ist. Er oder sie ist jemand, der Muster, Zusammenhänge
erkennt, diese kritisch bewerten kann und sie dann auch gestaltet. Dies setzt voraus,
dass man konkret wird und ins Detail geht, dann aber auch wieder die Mikroebene
verlässt und das „Big Picture“ sucht. Es ist wie beim Puzzeln. Es hilft ungemein,
wenn man nicht nur die einzelnen Puzzlestückchen hat, sondern das Bild und damit
die Zusammenhänge kennt. Das war der Durchbruch in meinem Studium.
Irgendwann habe ich die inneren Zusammenhänge der Einzelfächer und –
informationen erkannt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich nur noch sehr gute Arbeiten
abgeliefert, nachdem ich vorher zwei Hausarbeiten komplett vergeigt habe. Der
zweite Impuls: Werden Sie in diesem Sinne „Musterschüler“ und „-gestalter“
und verbinden sie so Theorie und Praxis, Abstraktion und Konkretion.
Der dritte Impuls: Leisten Sie sich auch normative Fragen, entwickeln Sie
Bilder, Anschauungen. Sie geben Kraft und Energie. Saint Exupéry hat
unübertroffen gesagt. „Wenn Du willst, dass die Menschen ein Schiff bauen, dann
sage ihnen nicht, dass sie Holz sammeln sollen sondern zeige ihnen das große weite
Meer.“ Eine normative Orientierung kann kraftvoll und wegweisend sein. Als
Verwaltungsexperte lohnt zum Beispiel die normative Frage: Wie wollen wir z.B. in
Stadt, Staat und Gesellschaft gemeinsam leben und welchen Beitrag kann und muss
die Verwaltung hierfür leisten. Da kann man sogar einmal die bereits erwähnten
Transzendentalien bemühen. Was bedeutet für uns „gutes“ Zusammenleben, was ist
für unsere Gemeinde wahr im Sinne von „stimmig“ und wie kann dies in Einheit
geschehen? Trotz oder gerade in aller Unterschiedlichkeit, Individualität und
Diversität. Aber dann muss auch Holz gesammelt, ein Boot gezimmert werden, das
dann auch den Stürmen des Meeres trotzt. Das ist Detailarbeit, verbunden mit einer
Vielzahl konkreter Kompetenzen und Spezialisierungen, die aber dann auch wieder
verknüpft werden sollten durch das Muster.
Noch in einem weiteren Sinne können wir die Metapher von Saint Exupéry fruchtbar
machen. Neben dem großen Bild, will er auch die Liebe „zum Meer“ wecken, die
Leidenschaft für das Meer. Bildungsautobiographisch kann ich so viel zur
Leidenschaft, man könnte auch Liebe, sagen. Wenn ich Masterarbeiten betreue,
empfehle ich den Studierenden immer, allen Nutzenkalkülen zum Trotze, etwas zu
wählen, was sie wirklich interessiert. Und ich selbst hätte ohne diese Liebe zum
Thema meiner Promotion, die ich nebenberuflich gemacht habe, die notwendige
Disziplin und Ausdauer nicht gehabt. Natürlich hat mir die Promotion auch etwas
„gebracht“. Ohne sie hätte ich definitiv nicht Professor werden können. Aber dies war
nicht mein primäres Ziel. Stattdessen wollte ich schon immer Machen und Tun mit
Reflexion und Nachdenken verknüpfen, weshalb ich mich bewusst an der Grenze
zwischen Theorie und Praxis bewegt habe und noch bewege. Und immer hatte ich
eine Leidenschaft für das Gemeinwesen und das „öffentliche – Public Management“.
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Denn gibt es etwas Schöneres, als das Gemeinwesen und Gemeinwohl gemeinsam
mit anderen mitzugestalten, jenseits von reinen Gewinn- oder Machtinteressen, die
auch ihren Platz haben, aber dann destruktiv wirken, wenn sie absolut gesetzt
werden.
Natürlich wissen wir seit Francis Bacon, dass Wissen auch Macht ist und damit
Bildung auch funktionalisiert wird, einen gesellschaftlichen Zweck hat. Aber ohne ein
Anliegen für die Sache fehlt das Herz oder es wird ein kaltes Herz. Insofern können
auch Mythen und Märchen einen Bildungswink geben. Deshalb der vierte Impuls:
Verknüpfen Sie Kopf und Hand mit dem Herz. Antonovsky, Begründer der
Resilienzforschung, also der Forschung zu der Frage, wie Gesundheit entsteht, hat
drei Säulen der Resilienz herausgearbeitet. Sie sind: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit
und Bedeutsamkeit. Die Nähe zur Bildungsdiskussion ist unübersehbar. Der Mensch
will verstehen, er will handeln und dieses Handeln muss ihm etwas bedeuten. Eben:
Kopf, Herz und Hand.
Zu guter Letzt und zurück zum Anfang: Bildung hat etwas mit Perspektive, mit Durchblicken
zu tun. Etymologisch haben Perspektive, Respekt, Aspekt und Prospekt
einen etymologischen Zusammenhang. Perspektive heißt Durchblick, Respekt heißt
Rück-Sicht, A-Spekt bedeutet einerseits „Nicht-Sehen“, bedeutet aber andererseits
auch „Hin- oder Ansicht“. Und Prospekt heißt Vor-Sehen. Wenn sie also respektvoll
zurückschauen, sind sie rück-sichtig, wenn sie achtsam mit allen Sinnen hinsehen,
werden Sie „an-sichtig“, wenn sie prospektiv nach vorne schauen, sind sie vorsichtig,
und das alles bedeutet dann um-sichtig zu sein. Das ist dann ein wirklicher
Durchblick, eine Perspektive, die bis zum Grunde geht. Das ist Grundlagenforschung
im wahrsten Sinne, die dann zur Praxis wird.
Mein letzter Impuls: Lassen Sie uns gemeinsam die Zukunft gestalten, man könnte
auch bilden sagen, indem wir im oben genannten Sinne respektvoll, achtsam und
vor- und weitsichtig mit uns selbst, unseren Mitmenschen und unserer Um-Welt
umgehen. Das ist die Aufgabe der Bildung heute und sollte an Schulen und
Hochschulen gelehrt, gelernt und erfahren werden.
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