Kermani ruft den Westen - bisher 'Grauen-Gaffer'- zum Handeln in Syrien auf

Diskurs aktuell
Friedenspreisträger DBH* 2015 : Navid Kermani
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Der Friedenspreisträger des *Deutschen Buchhandels* 2015 : Navid Kermani
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Der Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat den deutschen Orientalisten, Schriftsteller und Essayisten Navid Kermani zum diesjährigen Träger des Friedenspreises gewählt. Die Verleihung findet während der Frankfurter Buchmesse am Sonntag, 18. Oktober 2015, in der Paulskirche statt und wird live im ZDF übertragen. Der Friedenspreis wird seit 1950 vergeben und ist mit 25.000 Euro dotiert.

http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/445722/?aid=970665

Begründung der Jury
„Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2015 an

Navid Kermani.
Der deutsche Schriftsteller, Orientalist und Essayist ist eine der wichtigsten Stimmen in unserer Gesellschaft, die sich mehr denn je den Erfahrungswelten von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft stellen muss, um ein friedliches, an den Menschenrechten orientiertes Zusammenleben zu ermöglichen.
Seine wissenschaftlichen Arbeiten, in denen er Fragen der Mystik, der Ästhetik und der Theodizee insbesondere im Raum des Islam nachgeht, weisen Navid Kermani als Autoren aus, der mit großer Sachkenntnis in die theologischen und gesellschaftlichen Diskurse einzugreifen vermag.
Die Romane und Essays von Navid Kermani, insbesondere aber auch seine Reportagen aus Krisengebieten zeigen, wie sehr er sich der Würde des einzelnen Menschen und dem Respekt für die verschiedenen Kulturen und Religionen verpflichtet weiß, und wie sehr er sich für eine offene europäische Gesellschaft einsetzt, die Flüchtlingen Schutz bietet und der Menschlichkeit Raum gibt.“

Biographie Navid Kermani
Navid Kermani, geboren am 27. November 1967 in Siegen als vierter Sohn iranischer Eltern, beginnt mit bereits fünfzehn Jahren, regelmäßig für die Westfälische Rundschau zu schreiben. Nach dem Abitur und einer Hospitanz bei Roberto Ciulli am Theater an der Ruhr in Mülheim studiert er in Köln, Kairo und Bonn Islamwissenschaften, Philosophie und Theaterwissenschaft. Mit seiner Dissertation „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“ (Verlag C.H. Beck 1999) sorgt er gleichermaßen in den deutschsprachigen Feuilletons wie in der internationalen Fachpresse für Aufmerksamkeit. Parallel zum Studium schreibt Kermani ab 1995 für die Frankfurter Allgemeine Zeitung Literaturkritiken und Reportagen und wird 1998 fester Mitarbeiter im Feuilleton. Zudem ister als Dramaturg am Theater an der Ruhr in Mühlheim (1994/95) und am Schauspielhaus Frankfurt (1998/99) tätig. 1994 gründet er in Isfahan, der Heimatstadt seiner Eltern, das erste internationale Kulturzentrum, das infolge von Spannungen im deutsch-iranischen Verhältnis 1997 wieder schließen muss.
Von 2000 bis 2003 ist Kermani Long Term Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg und leitet in dieser Zeit den „Arbeitskreis Moderne und Islam“. Zudem initiiert er in dieser Zeit mehrere internationale Forschungsvorhaben wie etwa das Projekt „Jüdische und islamische Hermeneutik als Kulturkritik“, aus dem der Vorschlag für eine Jüdisch-Islamische Akademie in Berlin hervorgeht. Mit seinen ersten literarischen Veröffentlichungen entscheidet er sich 2003 gegen die Fortsetzung der akademischen Laufbahn und lebt seither als freier Schriftsteller. Gleichwohl habilitiert er sich 2005 im Fach Orientalistik an der Bonner Universität.
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit veröffentlicht Kermani in der Folgezeit regelmäßig Beiträge, Reportagen und Kunstbetrachtungen in den großen deutschsprachigen Zeitungen sowie im Spiegel. Von 2006 bis 2009 ist er Teilnehmer der ersten Deutschen Islam Konferenz und wird 2007 als erster Schriftsteller der zweiten bundesdeutschen Einwanderergeneration in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen. Das anschließende Jahr 2008 verbringt er als Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Zudem hält Kermani 2010 die traditionsreichen Frankfurter Poetikvorlesungen, ist 2013 Gastprofessor für Islamwissenschaft an der Universität Frankfurt und 2014 Gastprofessor für deutsche Literatur am Dartmouth College (USA).
Die literarischen Arbeiten von Navid Kermani, die zuerst im Ammann Verlag und seit 2011 im Carl Hanser Verlag erscheinen, thematisieren immer wieder die Grundfragen und Grenzerfahrungen der menschlichen Existenz wie Liebe und Sexualität, Verzückung und Tod. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Bücher sind der Koran und die islamische Mystik. Darüber hinaus berichtet Kermani immer wieder als Reporter aus Kriegs- und Krisengebieten und beschäftigt er in seinen öffentlichen Stellungnahmen mit dem Verhältnis zwischen Glauben und Gesellschaft sowie den Beziehungen des Westens zu den Ländern im Nahen Osten.
Navid Kermani lebt seit 1988 in Köln und ist mit Katajun Amirpur verheiratet, die als Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Hamburg lehrt. Das Paar hat zwei Töchter.
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Nach der Veröffentlichung seiner Doktorarbeit unter dem Titel „Gott ist schön“ (1999), die – in mehrere Sprachen übersetzt – als ein Standardwerk der Islamwissenschaft angesehen wird, erscheinen in der Folgezeit eine Sammlung von Reportagen mit dem Titel „Iran. Die Revolution der Kinder“ und der Gesprächsband „Ein Leben mit dem Islam“ (2001) als ein von Navid Kermani erzählte Autobiographie des ägyptischen Koranexperten Nasr Hamid Abu Zaid. Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 in New York analysiert Kermani in dem Buch „Dynamit des Geistes – Martyrium, Islam und Nihilismus“ (2002) die Geschichte des Selbstopferungsgedankens und die Genese des islamistischen Terrors.
Die als Soundtrack für ein Leben zwischen Babykoliken und philosophischen Gedankengängen konzipierte Erzählung „Das Buch der von Neil Young Getöten“ (2002), die zu einem großen Publikums- wie Kritikererfolg wird, die feingesponnenen Erzählminiaturen in „Vierzig Leben“ (2004) und der 2005 erscheinende Erzählband „Du sollst“, in dem er anhand der biblischen Gebote Situationen verkümmernder oder brutalisierter Sexualität schildert, sind Bestandteil der ersten zehn Jahre seines belletristischen Werks, das mit dem Kinderbuch „Ayda, Bär und Hase“ (2006) und dem Roman „Kurzmitteilung“ (2007) über einen Eventmanagers, den der Tod einer entfernten Bekannten einige Tage aus der Bahn wirft, seine Fortsetzung findet.
Im gleichen Zeitraum veröffentlicht Kermani beginnend mit „Schöner neuer Orient: Berichte von Städten und Kriegen“ (2003) zahlreiche Essaysammlungen und akademische Werke. „Schöner neuer Orient“ ist eine Sammlung von Reportagen, welche dem Leser die Widersprüche und Ambivalenzen der heutigen islamischen Welt vor Augen führen.Das Zweifeln des Menschen an Gott angesichts von Ungerechtigkeit und Elend auf der Welt ist Thema des folgenden Buches, seiner Habilitationsschrift „Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“ (2005), das als eine grundlegende Studie über das Motiv der Auflehnung gegen Gott innerhalb der monotheistischen Religionen gilt: „In einer Zeit politisch motivierter neuer Abgrenzung und Ausgrenzung zwischen islamisch-orientalischer und christlich-westlicher Welt ist Kermanis Unternehmen buchstäblich grenzensprengend. Es ist für religiösen Fanatismus und Totalitarismus auf allen Seiten gefährlicher als die Attacke durch einen religionskritischen Atheisten“ (Frankfurter Rundschau).
Der ebenfalls im Jahr 2005 veröffentlichte Band „Strategie der Eskalation. Der Nahe Osten und die Politik des Westens“ ist eine Zusammenstellung von Kommentaren über die Bekämpfung des Terrors und die vertanen Chancen, dem Extremismus den Boden zu entziehen. 2009 erscheint das Buch „Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime“, in dem sich Kermani mit Fragen der Integration auseinandersetzt und für einen differenzierten Blick auf Religionen und ihre Bedeutung im Alltagsleben plädiert.
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2010 übernimmt Navid Kermani die Poetik-Dozentur an der Frankfurter Goethe-Universität. Seine Vorlesungen werden 2012 unter dem Titel „Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“ als eigenständiges Werk veröffentlicht. In dem 2006 begonnenen und mehr als 1200 Seiten umfassenden Roman „Dein Name“ (2011), für den er den Joseph-Breitbach-Preis erhält, entwirft der Erzähler über eine Zeitspanne von fünf Jahren ein Panorama seiner Alltagswelt und der darin sich abzeichnenden Weltenläufe – „ein wahrhaftes Denkmal des menschlichen Geistes“, wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt.
Mit den Reportagen, die in „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“ (2013) versammelt sind, führt Kermani den Leser zu dem Krisengürtel, der sich von Kaschmir über Pakistan, Afghanistan und Iran bis in die Arabische Welt und bis an die Grenzen und Küsten Europas erstreckt. Anhand von differenziert geschilderten Alltagsszenen und zwischenmenschlichen Begegnungen beschreibt er eindrücklich die menschlichen Schicksale, die sich hinter den meist namenlosen Berichten aus den Krisenregionen der Welt verbergen. 2014 reist Kermani für eine Serie von Reportagen, die zunächst im Spiegel und kurz darauf auch als E-Book erscheinen, quer durch den Irak.
In dem Roman „Große Liebe“ (2014), der in den 1980er Jahren angesiedelt ist und auf Platz eins der SWR-Bestenliste gewählt wird, führt Kermani dem Leser das zeitlose Schauspiel der Liebe in ihrer ganzen Majestät und Überschwänglichkeit vor, verknüpft mit den Erzählungen der arabisch-persischen Liebesmystik. Sein jüngstes Buch „Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundigungen“ (2014) zeichnet die Begegnungen zwischen westlicher und orientalischer Literatur, Kunst und Religion nach – „die schönste essayistische Prosa, die gerade auf Deutsch zu haben ist“ (WDR).
Im August 2015 wird mit „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ eine Reflexion von Navid Kermani über die christliche Kunst und Religion aus der persönlichen Sicht des deutschen Schriftstellers muslimischen Glaubens erscheinen.
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Neben seinen Büchern und Essays bezieht Navid Kermani auch mit vielen seiner Reden und Vorträge immer wieder Stellung zu politischen und gesellschaftlichen Debatten. Insbesondere setzt er sich dabei für die Bewahrung und Weiterentwicklung des europäischen Projektes ein. So erregt seine 1995 gehaltene Festrede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Burg­theaters, in der er die europäische Flüchtlingspolitik anprangert, großes Aufsehen. 2009 wird ihm der Hessische Kulturpreis aufgrund eines Beitrags in der Neuen Zürcher Zeitung über die „Kreuzigung“ von Guido Reni zunächst vom damaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch aberkannt. Später entschuldigt sich Koch bei Kermani, der den Preis daraufhin annimmt. Das Preisgeld spendet er der katholischen Gemeinde Köln-Vingst, die in der Kollekte für den Bau der Kölner Moschee gesammelt hat.
In seiner vielzitierten Rede anlässlich der Verkündung des Grundgesetzes vor 65 Jahren, die von der Universität Tübingen zur „Rede des Jahres“ gewählt wird, analysiert Kermani im Mai 2014 im Deutschen Bundestag emphatisch die Sprache des Grundgesetzes und dessen normative Kraft. Dabei führt er den Kniefall Willy Brandts als das symbolische Ereignis der Nachkriegsgeschichte an, mit dem die Bundesrepublik Deutschland ihre heutige Identität und Würde gefunden habe:
„Ich neige vor Bildschirmen nicht zur Sentimentalität, und doch ging es mir wie so vielen, als zu seinem 100. Geburtstag die Aufnahmen eines deutschen Kanzlers wiederholt wurden, der vor dem Ehrenmal im ehemaligen Warschauer Getto zurücktritt, einen Augenblick zögert und dann völlig überraschend auf die Knie fällt – ich kann das bis heute nicht sehen, ohne dass mir Tränen in die Augen schießen.   
 Und das Seltsame ist: Es sind neben allem anderen, neben der Rührung, der Erinnerung an die Verbrechen, dem jedes Mal neuen Staunen, es sind auch Tränen des Stolzes, des sehr leisen und doch bestimmten Stolzes auf eine solche Bundesrepublik Deutschland.           
 Sie ist das Deutschland, das ich liebe, nicht das großsprecherische, nicht das kraftmeiernde, nicht das Stolz-ein-Deutscher-zu-sein-Deutschland oder das Europa-spricht-endlich-Deutsch-Deutschland, vielmehr eine Nation, die über ihre Geschichte verzweifelt, die bis hin zur Selbstanklage mit sich ringt und hadert, zugleich am eigenen Versagen gereift ist, die nie mehr den Prunk benötigt, ihre Verfassung bescheiden Grundgesetz nennt und dem Fremden lieber eine Spur zu freundlich, zu arglos begegnet, als jemals wieder der Fremdenfeindlichkeit, der Überheblichkeit zu verfallen.“
Im weiteren Verlauf übt Kermani aber auch scharfe Kritik an den „Entstellungen“, die am Grundgesetz vorgenommen worden seien und widmet sich hier vor allem dem Paragraphen 16, dessen „wundervoll bündiger Satz – ‚Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.‘ ‑ zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern geriet, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass Deutschland das Asyl als ein Grundrecht praktisch abgeschafft hat.“
Nach den Anschlägen in Paris bekennt sich Navid Kermani Anfang 2015 als Hauptredner der Kölner Trauerkundgebung zu den in der Zeit der Aufklärung entwickelten Grundwerten: Man brauche nicht weniger, sondern mehr Freiheit, um das Ziel des Terrorismus aber auch der europäischen Rechten, einen Keil in die Gesellschaft zu treiben, zu verhindern. Zugleich fordert er die Muslime auf, den Terrorismus nicht einfach als „unislamisch“ abzutun: „In dem Augenblick, da sich Terroristen auf den Islam berufen, hat der Terror auch etwas mit dem Islam zu tun. Wir müssen die Auseinandersetzung mit der Lehre suchen, die heute weltweit Menschen gegeneinander aufhetzt und Andersgläubige ermordet oder erniedrigt.“

Auszeichnungen
Für sein literarisches und akademisches Werk hat Navid Kermani zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen erhalten.

2015   Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
2014   Gerty-Spies-Literaturpreis
2014   Joseph-Breitbach-Preis
2012   Heinrich-von-Kleist-Preis
2012   Kölner Kulturpreis
2012   Cicero-Rednerpreis
2011   Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken
2011   Buber-Rosenzweig-Medaille
2009   Hessischer Kulturpreis
2004   Europa-Preis der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung für das wissenschaftliche und publizistische Werk
2003   Jahrespreis der Helga und Edzard Reuter-Stiftung
2000   Ernst-Bloch-Förder­preis

Laudator Norbert Miller
Norbert Miller, geboren 1937 in München, studierte Literatur- und Musikwissenschaft und Kunstgeschichte. Gemeinsam mit Walter Höllerer rief er 1961 die Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ ins Leben, deren Herausgeber er heute noch ist, und gründete 1963 das Literarische Colloquium Berlin.
Von 1972 bis 2005 war Norbert Miller Professor für Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Hochschule in Berlin. Er hat unter anderem die Werke von Jean Paul, Daniel Defoe und Henry Fielding herausgegeben und ist zudem Mitherausgeber der Münchner Ausgabe der Werke Goethes.
Für seine zahlreichen Werke, zuletzt „Paradox und Wunderschachtel“ (2012) und „Fonthill Abbey. Die dunkle Welt des William Beckford“ (2012), hat Norbert Miller zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten, unter anderem die Goldene Goethe-Medaille der Goethe-Gesellschaft Weimar, den Deutschen Sprachpreis und das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Bibliographie von Navid Kermani

1. Buchveröffentlichungen
„Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“
C.H. Beck Verlag, München 2015, 304S., gebunden, 24,95 €, ISBN13: 978-3-406-68337-4 (erscheint Ende August 2015)
„Große Liebe. Roman“
Carl Hanser Verlag, München 2014 (3., durchgesehene Auflage), 224 S., 18,90 €, ISBN13: 978-3-446-24576-1
 Carl Hanser Verlag, München 2014, epub, 14,99 €, ISBN13: 978-3-446-24474-0
„Große Liebe“
Gelesen von Christian Brückner
 Parlando Verlag, Berlin 2014, Hörbuch, 4 CDs, 304 Min., 24,99 € (fr. Pr.), ISBN13: 978-3-941004-52-8
„Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen“
C.H. Beck Verlag, München 2014 (2., durchgesehene Auflage 2015) 365 S., gebunden, 24,95 €, ISBN13: 978-3-406-66662-9
 C.H. Beck Verlag, München 2014, epub, 19,99 €, ISBN13: 978-3-406-66663-6
„Album: Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung“
Carl Hanser Verlag, München 2014, 512 S., Paperback, 27,90 €, ISBN13: 978-3-446-24535-8
 Carl Hanser Verlag, München 2014, epub, 20,99 €, ISBN13: 978-3-446-24690-4
„Wenn Ihr die schwarzen Flaggen seht - Eine Reise durch den Irak“
mit Fotos von Ali Arkady und Sebastian Meyer
 SPIEGEL-Verlag, Hamburg 2014, 63 S., epub, 2,99 €, ISBN13: 978-3-87763-119-5
„Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“
C.H. Beck Verlag, München 2013 (3. Auflage), 252 S., gebunden, 19,95 €, ISBN13: 978-3-406-64664-5
 C.H. Beck Verlag, München 2013, epub, 15,99 €, ISBN13: 978-3-406-64665-2
 C.H. Beck Verlag, München 2015, 272 S., Paperback, 14,95 €, ISBN13: 978-3-406-68292-6
„Über den Zufall. Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe“
Carl Hanser Verlag, München 2012, 223 S., Paperback, 17,90 €, ISBN13: 978-3-446-23993-7
 Carl Hanser Verlag, München 2012, epub, 13,99 €, ISBN13: 978-3-446-24109-1
„Vergesst Deutschland! Eine patriotische Rede“
Ullstein Buchverlage, Berlin 2012, 47 S., gebunden, 3,99 €, ISBN13: 978-3-550-08021-0
 Ullstein Buchverlage, Berlin 2012, epub, 3,99 €, ISBN13: 978-3-8437-0399-4
„Dein Name. Roman“
Carl Hanser Verlag, München 2011 (3., durchgesehene Auflage), 1232 S., kartoniert, 34,90 €, ISBN13: 978-3-446-23743-8
 Carl Hanser Verlag, München 2013, epub, 29,99 €, ISBN13: 978-3-446-24403-0
„Dein Name“
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2015, 1232 S., Paperback, 16,99 €, ISBN13: 978-3-499-26971-4
„Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“
C.H. Beck Verlag, München 2009, 170 S., gebunden, 16,90 €, ISBN13: 978-3-406-66459-5
 C.H. Beck Verlag, München 2010, epub, 13,99 €, ISBN13: 978-3-406-61540-5
 C.H. Beck Verlag, München 2014 (3.Aufl.), 170 S., gebunden, 16,95 €, ISBN13: 978-3-406-66459-5

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http://www.zeit.de/kultur/literatur/2015-10/navid-kermani-friedenspreis-rede-syrien

Der Deutsch-Iraner Navid Kermani hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Der Orientalist appellierte an den Westen, den Krieg in Syrien zu beenden.
 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Kermani ruft den Westen zum Handeln in Syrien auf

Der deutsch-iranische Autor Navid Kermani hat eindringlich an die internationale Gemeinschaft appelliert, den Krieg in Syrien und dem Irak zu beenden. Dazu seien weit entschlossenere diplomatische und möglicherweise auch militärische Schritte notwendig, sagte der 47-jährige Orientalist am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche vor fast 1000 Besuchern. Dort nahm der Schriftsteller den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen.
"Erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen", sagte Kermani, der als Sohn iranischer Einwanderer in Siegen geboren ist und heute in Köln lebt. Der Krieg könne nur von den Mächten beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen. Dazu gehörten der Iran, die Türkei, die Golfstaaten, Russland und der Westen.
 
Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit ihren maximal 30 000 Kämpfern könne besiegt werden, sagte Kermani. "Wahrscheinlich werden wir Fehler machen, was immer wir jetzt noch tun. Aber den größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür tun, den des "Islamischen Staates" und den des Assad-Regimes."
Kermani: Der Westen hat sich mit dem Völkermord abgefunden
Kermani bezeichnete es als "beglückend", dass sich vor allem in Deutschland so viele Menschen für Flüchtlinge einsetzten. Er forderte aber zugleich eine Debatte über die Ursachen des Terrors und der Fluchtbewegung. Dazu gehöre auch die Frage, wie die Politik in Deutschland die Katastrophe "vor unseren Grenzen" befördert hat.
"Wir fragen nicht, warum unser engster Partner im Nahen Osten ausgerechnet Saudi-Arabien ist", kritisierte Kermani, der dem Land die Finanzierung des Dschihadismus vorwarf. Der Westen dürfe aus den "desaströsen" Kriegen im Irak oder in Libyen nicht den Schluss ziehen, sich bei Völkermord besser herauszuhalten. Man habe sich mit dem Völkermord des syrischen Machthabers Baschar al-Assad am eigenen Volk und dem religiösen Faschismus des IS abgefunden.
Der Orientalist beklagte, dass die im Mittelalter tolerante multikulturelle islamische Kultur in den muslimischen Ländern ausgelöscht sei. Alle Völker des Orients hätten durch den Kolonialismus und säkulare Diktaturen "eine brutale von oben verordnete Modernisierung" erlebt. Die Fundamentalisten hätten die Zerstörung der Tradition weiter vorangetrieben.
Aiman Mazyek: Verleihung Ausdruck eines "Deutschlands der neuen Vielfalt"
Mit dem Friedenspreis ehrt der Deutsche Buchhandel seit 1950 Persönlichkeiten, die sich für Völkerverständigung und Menschlichkeit einsetzen. Der mit 25.000 Euro dotierte Preis gilt als eine der bedeutendsten Auszeichnungen Deutschlands.
Kermani sei eine der wichtigsten Stimmen in der heutigen Gesellschaft, wenn es um das friedliche Miteinander von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft gehe, hieß es in der Begründung für die Auszeichnung. Im vergangenen Jahr hatte der US-Internetkritiker Jaron Lanier den Preis erhalten. 2013 ging der Preis an die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, die vor wenigen Tagen den Literaturnobelpreis bekommen hat.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, gratulierte Kermani.
"Dialog ist gut. Dialog ist anstrengend. Dialog macht stark", so Mazyek gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Kermani habe "
diesen Weg des unermüdlichen Einsatzes zur Versöhnung der Religionen und Kulturen literarisch und intellektuell in seinem Schaffen aufbereitet". Die Verleihung des Preises an ihn sei auch Ausdruck eines "Deutschlands der neuen Vielfalt".
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Navid Kermanis Rede in Frankfurt
Chronik eines Niedergangs  
Von Stefan Kister
 18. Oktober 2015 - 17:54 Uhr 
In seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels hat der muslimische Schriftsteller Navid Kermani ein düsteres Bild der islamischen Welt gezeichnet. Am Ende ruft er die Gäste in der Frankfurter Paulskirche zum Gebet.

Stuttgart - Letztes Jahr im Bundestag, dieses Jahr in der Paulskirche: Der Schriftsteller, Orientalist und Reporter Navid Kermani entwickelt sich zu einem säkularen Prediger in den Kathedralen des parlamentarischen Selbstverständnisses Deutschlands. Sein bewegender Auftritt im Mai 2014 vor den Bundestagsabgeordneten anlässlich des 65-jährigen Geburtstags des Grundgesetzes hat Epoche gemacht. Er erinnerte damals Deutschland an seine Verantwortung angesichts von Millionen Flüchtlingen aus den Krisenländern des Nahen Ostens.
 In der Zwischenzeit hat sich die Situation weiter verschärft. Am Tag vor der Verleihung des Friedenspreises in Frankfurt an Kermani ist die Kölner OB-Kandidatin Henriette Reker offensichtlich aus fremdenfeindlichen Gründen niedergestochen worden. Es gärt im Land. Und wie um das zu unterstreichen, dringt in die Weihe des Festakts in der Paulskirche immer wieder beunruhigender Rumor von Martinshörnern. In solch einer Situation bedarf es besonnenerer Töne, die hinter das Formelwesen dringen, in dem derzeit das menschlich Gebotene mit dem politisch Opportunen ausgemittelt wird.
 In der Paulskirche tagte einst das erste deutsche Parlament. Zuvor war es die evangelisch-lutherische Hauptkirche der Stadt Frankfurt. Nun ist der ehrwürdige Bau um einen großen Moment seiner Geschichte reicher. Der gläubige Muslim Kermani rückt die ursprünglich sakrale Funktion der Paulskirche wieder in den Vordergrund. Dies, obwohl an dieser Stelle selten eine Rede so eindringlich im Hier und Jetzt verankert worden sein dürfte, wie die des 1967 in Siegen geborenen Sohnes einer aus dem Iran eingewanderten Familie.

Das Kloster in der Wüste
Mit „Hyperions Schicksalslied“ von Hölderlin umreißt der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Heinrich Riethmüller, die Ausgangslage: Droben im Licht, auf weichem Boden, die Himmlischen, drunten die leidenden Menschen, „blindlings von einer / Stunde zur andern, / wie Wasser von Klippe / zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab.“
Diese Sphären gilt es miteinander zu vermitteln, Dichtung, Religion, Politik und das Elend derer, die im Schatten wohnen. Niemand kann darüber ähnlich glaubwürdig den Bogen schlagen, wie der diesjährige Friedenspreisträger, niemand, außer vielleicht jener syrische Pater Jacques, in dessen Geschichte Kermani seine Dankesrede einbettet.
Am gleichen Tag, als Kermani die Nachricht seiner Auszeichnung erhielt, wurde der katholische Geistliche vom sogenannten „Islamischen Staat“ entführt. Lesern von Kermanis islamisch-christlichen, unter dem Titel „Ungläubiges Staunen“ jüngst veröffentlichten Bildbetrachtungen ist die Glaubensgemeinschaft Mar Musa bereits ein Begriff. Das Kloster in der syrischen Wüste ist zu einem Treffpunkt der Religionen geworden, wo arabische Muslime ihren christlichen Geschwistern begegnen konnten. Ein utopischer Ort endzeitlicher Versöhnung, aber zugleich auch radikaler Gefährdung.

Der Katalog des Grauens ist lang
Kermani wählt für den christlichen Pater, der sich noch im Angesicht der Fratze selbst ernannter Gotteskrieger um das Bild der anderen Religion sorgt, den Ton einer modernen Heiligenvita. Doch was sich der Christ versagt, muss der Muslim Kermani vollziehen: die Kritik dessen, was aus dem Islam heute geworden ist. „Wer als Muslim nicht mit dem Islam hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.“
Und so ist ein Teil dieser großen Rede die nüchterne Bestandsaufnahme eines Niedergangs. Der Katalog des Grauens ist lang: „In Afghanistan werden Frauen gesteinigt, in Pakistan Schulklassen ermordet, in Libyen Christen geköpft, in Bangladesch Blogger erschossen, in Somalia Bomben auf Marktplätzen gezündet, in Mali Sufis und Musiker umgebracht, in Saudi-Arabien Regimekritiker gekreuzigt.“ Kermani vergleicht die gegenwärtigen Verwerfungen in der islamischen Welt mit dem Ersten Weltkrieg, nichts sei danach mehr so wie zuvor. Der multiethnische, multireligiöse und multikulturelle Orient, immer bedroht, niemals heil, aber doch quicklebendig sei unwiderruflich dahin – Opfer nicht eines Krieges des Islams gegen den Westen, sondern des Islams gegen sich selbst.
Während sich hier rechte Kreise mit der Idee einer Islamisierung des Abendlandes aufstacheln, sieht Kermani ganz im Gegenteil den „religiösen Faschismus“ des IS als Endpunkt einer langen Abwärtsbewegung. Und so wie die Rassenlehre den früheren unterfüttert, bildet die vom westlichen Verbündeten Saudi-Arabien ausgehende Ideologie des Wahabismus den Nährboden des gegenwärtigen: „Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem Öl hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern, im Fernsehen ein Denken ausgebreitet, das ausnahmslos alle Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft, terrorisiert und beleidigt.“

Der Westen habe nur zugeschaut
Die Vergangenheit des Islam ist mit der Gegenwart nicht mehr zusammenzubringen, sagt der habilitierte Islamwissenschaftler. Vielleicht sei das Problem weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen Gedächtnisses, die kulturelle Amnesie.
Doch der Hölderlin-Leser kennt auch den Umschlagpunkt von Gefahr in das Rettende. Der Schock über die Gräueltaten der islamistischen Terror-Sekte mobilisiere Gegensätze. Und Kermani erinnert an das große europäische Einigungswerk auf den Trümmern zweier Weltkriege, „das politisch Wertvollste, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat“: „Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung, die Europa immer noch ist.“ Szenenapplaus. Navid Kermani würdigt das Engagement für Flüchtlinge, mahnt jedoch im Blick auf die Ursachen des Terrors eine politischere Haltung an. Der Westen habe dem Assad-Regime beim Mord am eigene Volk nur zugeschaut und damit die Katastrophe vor unseren Grenzen mitbefördert. Nun gewöhne man sich an die Geisel des IS, doch eine Organisation mit 30 000 Kämpfern sei für die Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar.
„Darf ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen?“, fragt Kermani. Nein. Aber hinweisen, dass es einen Krieg gibt, darf er schon. Und so ruft Kermani am Ende nicht zum Krieg, sondern zum Gebet auf. Gebete seien nichts anderes als an Gott gerichtete Wünsche. Vereint in stillen Wünschen für die Geiseln der Gemeinschaft von Mar Musa, für die Freiheit Syriens und des Iraks stehen die rund tausend Zuhörer, darunter viel politische Prominenz unter der Kuppel der Paulskirche. Ein bewegendes Bild der Brüderlichkeit gegen die blutige Propaganda der Terroristen.