Bürger sollen ein neues Verhältnis zum Umraum entwickeln

Stadt und Land vernetzen

Bürger sollen ein neues Verhältnis zum Umraum entwickeln

Nachdem Kassel im Oktober 1943 durch Bomben zum großen Teil zerstört worden war, erlebte die Stadt am Kriegsende einen beispielhaften Wiederaufbau – vergleichbar mit dem in anderen europäischen Städten. Viele Kasseler Bürger sehen den einst als fortschrittlich betrachteten radikalen Stadtumbau heute als Makel – vielfach wird die Sehnsucht nach der mittelalterlichen Fachwerkidylle geäußert. An der Universität wird die These vertreten, dass die Architektur der fünfziger Jahre nicht vorschnell verdammt werden, sondern eine intensivere Auseinandersetzung damit stattfinden sollte. Es gibt bereits ein studentisches Projekt, das sich mit der negativen Bewertung des Wiederaufbaus und mit Konzepten für eine Veränderung dieser Sichtweisen beschäftigt hat. Auf dieser Basis soll ein Projekt für die Kulturhauptstadtbewerbung einen Bewusstseinswandel in der Stadt erreichen.
Die Idee Nach den großen Zerstörungen des II. Weltkrieges galt die neue Innenstadt von Kassel in den fünfziger Jahren als ein besonders gutes Beispiel für den modernen Wiederaufbau. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die Innenstadt durch Neubauten, Umbauten, Straßenverbreiterungen, Umnutzung von Plätzen zu Parkplätzen, aber auch Neugestaltung von öffentlichen Räumen weiter verändert – oft nicht zu ihrem Vorteil. Denn der „Autogerechtigkeit“ der City wurde oft entsprechend der Auffassung der sechziger Jahre höhere Priorität eingeräumt als der „Aufenthaltsqualität“ für Besucher und Bewohner. Viele Kasseler Bürger und Besucher aus der Umgebung begreifen die neue Innenstadt heute vor allem als Makel, als Symbol für den Verlust der alten Fachwerkstadt. Diese negative Bewertung des Stadtkerns wirkt auf das Image der Gesamtstadt zurück und wirft einen Schatten auf ihre kulturellen Potenziale, ihre stadt- und landschaftsräumlichen Qualitäten ebenso, wie sie die Dynamik der Entwicklung als documenta- und Universitätsstadt negativ beeinflusst. Mit dieser Problematik steht Kassel auf Grund der umfangreichen Zerstörungen von Innenstädten im II. Weltkrieg in Europa nicht allein – Coventry, Rotterdam, Dresden, Breslau, Warschau sind ähnliche Beispiele. Mit dem sichtbaren Bruch in der Stadtgeschichte – dem Verlust der alten Stadtmitte und einem nach den Zielen des modernen Städtebaus wieder aufgebauten Stadtzentrum – haben sich viele europäische Städte auseinanderzusetzen. Hier kann Kassel viele Impulse aus anderen europäischen Städten fruchtbringend aufnehmen, aber auch wichtige Anstöße für andere europäische Städte geben – ob nun durch eine aktuelle Reflexion der Moderne, einen neuen Diskurs zur Identitätsfindung oder die Entwicklung von Konzepten zur Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt. Es stellt sich die Frage, ob die Architektur und der Städtebau dieser Zeit nicht zu schnell und unreflektiert als eintönig, anonym und „unheimisch“ bewertet werden. Die These lautet, dass die Architektur und der Städtebau der fünfziger Jahre, auf die man zunächst stolz war, mit der Kritik an den Entwicklungen der sechziger Jahre, die sich vor allem gegen das Primat der Verkehrsplanung im Städtebau und die Grobheit des „Bauindustrie-Funktionalismus“ in der Architektur richtete, pauschal mit auf die Müllhalde der Geschichte geworfen wurden. Qualitäten werden erst auf den zweiten Blick wahrgenommen. Zu den Zielen des Projektes gehört die Dokumentation der Planungen und Projekte des Wiederaufbaus in Kassel, zum Beispiel in einer Ausstellung und/oder einem Buch, ebenso wie die Untersuchung der Hintergründe für ihre vorwiegend negative Bewertung und last but not least die Entwicklung von Strategien und Konzepten zur Aufwertung der Innenstadt, zum Beispiel in Workshops, Wettbewerben und zu realisierenden Projekten.
In einem studentischen Projekt am Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung der Universität Kassel entstanden mit Unterstützung von Kollegen zu allen drei Zielen erste Arbeitsergebnisse, die in einer Dokumentation nachlesbar sind und in Kürze öffentlich präsentiert werden: 1. Jann Gerdes und Hatem Wojta untersuchten die „Transformation der stadträumlichen Struktur und der Wiederaufbauplanung Kassels“ genauer, indem die verschiedenen Planungen seit 1942 miteinander verglichen wurden. Diese Dokumentation zeigt, wie der Veränderungsprozess durch unterschiedlich starke Entwicklungssprünge gekennzeichnet ist. 2. Von Torben Schmitt und Andre Werner wurde ein „Architekturspaziergang der fünfziger Jahre durch Kassels Innenstadt“ konzipiert. Der Rundgang durch die Stadt führt zu zwölf ausgewählten Standorten, an denen „Infoboxen“ aufgestellt werden sollen. 3. Nadine Janz und Torsten Rückert entwickelten ein Ideenkonzept für den „documenta-kunst-weg“. Im Mittelpunkt steht die Route vom Kulturbahnhof über die Treppenstraße, den Friedrichsplatz bis hin zur Orangerie in der Karlsaue. Das studentische Projekt war zeitlich und personell sehr begrenzt. Die Thematik hat sich jedoch in vieler Hinsicht als tragfähig und sehr interessant erwiesen. Mit der neuen Sensibilisierung für die Kasseler Innenstadt des Wiederaufbaus konnten schon spannende Diskussionen bei der Projektpräsentation am Fachbereich und im Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis der StudentInnen ausgelöst werden. Im Verlaufe des Projektes wurde festgestellt, dass die Qualitäten der fünfziger Jahre oftmals erst auf den zweiten Blick deutlich werden.
Die Recherchen ergaben außerdem, dass eine Fülle von Dokumenten, Material und Originalen aus den fünfziger Jahren in den Archiven und Depots des Stadtmuseums und anderen Archiven, auch von Privatleuten, schlummern. Deshalb ist die Fortsetzung des Projektes auf mindestens drei Ebenen beabsichtigt: 1. als Vertiefung und weitere Ausarbeitung der Untersuchung des „Transformationsprozesses der stadträumlichen Struktur“ (Ausstellung und Buch) 2. als Erweiterung und Vervollständigung des „Architekturspazierganges“ mit Siedlungen und markanten Bauwerken der fünfziger Jahre außerhalb der Innenstadt (Führungen und Katalog) 3. als Initiierung von Konzepten und Projekten zur „Korrektur der Moderne“ mit Eigentümern (z. B. Wohnungsbaugesellschaften), neuen Investoren und Architekten (Planen und Bauen)
Auf allen Ebenen ist die Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseums, dem Bund Deutscher Architekten und der Kunsthochschule angestrebt. Auf allen Ebenen sind die Zusammenarbeit mit und die Unterstützung von ExpertInnen und interessierten EinwohnerInnen Voraussetzung für das Gelingen. Die Zusammenarbeit mit und die Unterstützung von den bisher beteiligten ExpertInnen und BeraterInnen Prof. H. Slenczka, dem Leiter des Stadtmuseums K.-H. Wegner, Dr. F. Fischer, Prof. Dr. U. Terlinden, Prof. M. Reiner, Prof. Chr. Kopetzki, Mitgliedern des BdA, der beteiligten StudentInnen sowie mit den Bereichen Design und Innenarchitektur der Kunsthochschule sind angestrebt. Betreuung: Prof. Ingrid Lübke, Nadja Tremer, Prof. Dr. Ulla Terlinden, Beratung: Prof. Maya Reiner, Dr. Friedhelm Fischer, Prof. Helmut Slenczka.
Initiatorin: Prof. Ingrid Lübke, Universität Kassel

 

 

6.2. Jude, Philisoph, Deutscher

Kassel als Zentrum für die Erforschung des religionsphilosophischen Werkes Franz Rosenzweigs

Franz Rosenzweig (1886–1929), in Kassel geboren und zur Schule gegangen, war ein bedeutender jüdischer Philosoph. In seinem religionsphilosophischen Hauptwerk „Der Stern der Erlösung“ kritisiert er die Philosophie des Idealismus und spricht sich für ein „Neues Denken“ aus. Im Dialog zwischen Gott, dem Menschen und der Welt manifestieren sich deren Beziehungsformen: die Offenbarung, die Schöpfung und die Erlösung. Gemeinsam mit Martin Buber arbeitete er an der Übertragung der hebräischen Bibel ins Deutsche. Seine innovative Umdeutung traditionellen jüdischen Ideenguts beeinflusste nicht nur die jüdische Theologie in erheblichem Maße, sondern in den letzten Jahren zunehmend auch das Selbstverständnis des Christentums aus seinen jüdischen Wurzeln. Ab 1968 verleiht der Koordinierungsrat der Deutschen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit die Buber-Rosenzweig-Medaille. Zurzeit gibt es intensive Bemühungen, den Nachlass von Franz Rosenzweig nach Kassel zu holen und die an der Universität Kassel bestehende Rosenzweig-Forschung in Kooperation mit ähnlichen Initiativen in Israel und den USA zu einem Forschungszentrum auszubauen. Bereits 1986 veranstaltete die Universität Kassel unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Richard v. Weizsäcker zum 100. Geburtsjahr Franz Rosenzweigs einen allerersten internationalen Kongress „Der Philosoph Franz Rosenzweig“. Dieser Kongress hat Zeichen gesetzt und nachhaltig die Rosenzweig-Forschung sowie mit ihr zusammenhängende fundamentalphilosophische und interreligiöse Themen befruchtet. Seit 1987 – vorerst bewilligt bis 2005 – hat die Universität Kassel eine Franz-Rosenzweig-Gastprofessur gestiftet, auf die ehemals aus Europa zur Emigration getriebene Philosophen und Geisteswissenschaftler zu einem Gastsemester nach Kassel eingeladen werden. Seit 1990 gibt es eine stetig wachsende internationale Zusammenarbeit von Forschungsgruppen aus vielen Ländern der Erde, die sich mit der Franz-Rosenzweig-Forschung beschäftigen. Im Frühjahr 2004 hat unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Johannes Rau ein zweiter internationaler Franz-Rosenzweig-Kongress in Kassel stattgefunden, auf dem die anwesenden Forscher eine Internationale Rosenzweig-Gesellschaft mit Sitz in Kassel gründeten. Für die darauf folgende Tagung 2006 wurde als Tagungsort Jerusalem vorgeschlagen. Für 2008 liegen Bewerbungen aus Frankreich und Italien vor. Es wird angestrebt, den internationalen Franz-Rosenzweig-Kongress im Jahre 2010 erneut in Kassel durchzuführen.
Initiatoren: Esther Haß, Jüdische Gemeinde Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Universität Kassel

 

6.3. Kassel als Labor

Die Universität untersucht in Kassel - exemplarisch für Europa - die Bewältigung des Strukturwandels

Wie wird die künftige europäische Kultur geprägt sein, und welchen Beitrag kann Kassel in diesem Prozess leisten? – Zwei der Fragen, die von der Universität Kassel im Bewerbungsprozess für den Titel Kulturhauptstadt Europas beantwortet werden sollen. In einer interdisziplinären Arbeitsgruppe werden Wissenschaftler zeigen, wie Umbrüche in Städten bewältigt werden können. Kassel mit seiner Tradition als Residenz-, Industrie-, Garnisons- und documenta-Stadt hat im Verlaufe seiner Geschichte einen fortdauernden Strukturwandel verkraftet. Die Stadt ist damit ein Labor für die Bewältigung von räumlichen, sozialen und ökonomischen Zäsuren – die bedeutsamste war die Zerstörung im II. Weltkrieg und der Wiederaufbau nach 1945. Die von der Hochschule geplante Erforschung des Wandels soll etwas im Sinne einer Selbstvergewisserung voranbringen und so identitätsstiftend wirken. Zugleich sollen die Kasseler Erfahrungen ausgewertet und nutzbar gemacht werden. Die Universität plant in diesem Zusammenhang einen interdisziplinär angelegten Studiengang Urbanistik oder Urban Development, der durch eine Institutsgründung etabliert werden könnte.
Die Welt und Europa befinden sich im Umbruch Aus Sicht der Universität genügt es nicht, nur die Vergangenheit zu beleuchten und die Gegenwart zu präsentieren. Noch wichtiger – auch vor dem Hintergrund der Entwicklung des europäischen Gedankens und einer europäischen Identität – ist die Auseinandersetzung mit der Zukunft. Was zeichnet europäische Kultur zukünftig aus? Wovon wird sie geprägt sein? Die Beantwortung dieser Fragen wird eng verbunden sein mit der zukünftigen Entwicklung der europäischen Städte und Regionen. Für diese Entwicklung gibt es eine Vielzahl von Aspekten und Herausforderungen, die zu bewältigen sein werden – etwa Globalisierung, Bevölkerungsrückgang und Überalterung, Zuwanderung und Integration, gesellschaftlicher Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, gesellschaftliche Spaltungen und Verwerfungen, Transformation des Sozialstaats, Sicherung der Umwelt. Im Ergebnis führen alle diese Aspekte zu der Erkenntnis, dass die Entwicklungen in Europa – anders und früher als in den meisten anderen Regionen der Welt – nicht mehr von Expansion geprägt sind, sondern von Konzentration, nicht mehr von Explosion, sondern von Implosion, nicht mehr von Quantität, sondern von Qualität. Hier steht ganz Europa, in dieser Form einzigartig in der Welt, vor einem großen gesellschaftlichen Umbruch. Mit den komplexen Veränderungen sind in allen Teilen Europas immer größere Disparitäten und veränderte Raumstrukturen verbunden – verlassene Dörfer, schrumpfende Regionen einerseits, wenige pulsierende Metropolen und Großstadtregionen mit entsprechenden Problemen andererseits. Vor diesem Hintergrund muss sich für eine europäische Kulturhauptstadt 2010 die Frage stellen: Was bedeutet Kultur in diesem europäischen Umbruch? Kann die Kulturhauptstadt ein Beispiel geben, um ein positives Bild von der Zukunft europäischer Städte zu zeichnen? Welchen Beitrag kann Kultur leisten, um in diesem Strukturwandel vorhandene Chancen aufzuzeigen und Lösungen zu befördern?
Beispielhafte Wege für einen Aufbruch Kassel als europäische Kulturhauptstadt 2010 hat alle Voraussetzungen, um als „Labor“ für die Erforschung und Beantwortung dieser Fragen zu fungieren: Nicht nur, weil es geografisch in der Mitte Europas und Deutschlands liegt, nicht nur, weil es alle europäischen Strukturprobleme wie Bevölkerungsrückgang und Überalterung, wirtschaftlichen Strukturwandel, soziale Spaltung oder Zuwanderung schon heute fast idealtypisch aufweist, sondern auch, weil Kassel nicht zum ersten Mal vor einem Umbruch steht und beispielhafte Wege für einen Aufbruch beschritten hat. Kassel kann auf eine reiche, wechselvolle Geschichte, auf exemplarische Entwicklungen ebenso wie auf herausragende Einzigartigkeiten und weltbekannte Innovationen blicken. Erinnert sei an die Rollen als ehemalige Residenz- und preußische Provinzstadt, als klassische Industriestadt mit dem daraus resultierenden, noch nicht abgeschlossenen Strukturwan-del und als eine der fünf größten Garnisonsstädte der Republik mit vollständiger Demilitarisierung ab 1990/91. Mit dem II. Weltkrieg und dem hohen Zerstörungsgrad hat Kassel einen Umbruch erlebt, der sich noch heute deutlich im Stadtbild, am deutlichsten in der Innenstadt, zeigt. Aber auch damit verbunden war ein Aufbruch. Der strukturell radikale, moderne Wiederaufbau der Kasseler Innenstadt galt in den fünfziger Jahren als europaweit beachtetes Beispiel. Die zu dieser Zeit geborene documenta ist noch heute die weltweit wichtigste Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Diese Geschichte hat die Stadt Kassel und Region Nordhessen gesellschaftlich, ökonomisch, sozial und kulturell stark geprägt und drückt sich vielfältig im Stadtbild aus. Sie ist gewachsene Identität, die jedoch in ihrer Vielfältigkeit oft nicht wahrgenommen, in Teilen negiert, ausgeblendet oder widersprüchlich von der eigenen Bevölkerung bewertet wird. Ohne Zweifel spielen dabei gerade die Identitätsbrüche, wie sie Kassel z. B. durch die Kriegszerstörung und den Neuaufbau im Sinne der städtebaulichen Moderne erlitten hat, eine große Rolle. Hier stellt sich die Frage nach den Hintergründen einer widersprüchlichen Bewertung der im Zuge des wirtschaftlichen und politischen Wandels vielfach entstandenen Industriebrachen und Konversionsflächen sowie der aus der „Industriezeit“ stammenden Massenwohnungsbau-Quartiere und ihres Images. Die Klärung dieser Fragen ist die unerlässliche Voraussetzung für den zukünftigen Umgang mit dem anhaltenden Strukturwandel. Die Stadt Kassel steht mit ihrer Problematik der Identitätsbrüche auf Grund umfangreicher Zerstörungen von Innenstädten im II. Weltkrieg und eines modernen Wiederaufbaus (Coventry, Rotterdam und zahlreiche Städte in Osteuropa) nicht allein. Ebenso müssen sich gerade in den stark industriell geprägten Regionen Europas viele Städte mit den Folgen des Strukturwandels auseinandersetzen. Als jüngste Problematik tritt die Suche nach einer eigenen kulturellen Identität der ost- und südosteuropäischen Staaten nach jahrzehntelanger sozialistischer Herrschaft in den Vordergrund. Daher werden alle unter diesem „Projektdach“ zusammengefassten Teilprojekte bis zum Jahr 2010 von Anfang an mit europäischen Partnern koordiniert.
Gedächtnis der Stadt bewahren Ausgangspunkt ist die Stadt Kassel als europäisches „Labor“ und die Universität als Projektträger. Zu den Zielen der Universität gehört, die Geschichte der Stadt Kassel in den oben beschriebenen Zusammenhängen sichtbar zu machen, zu dokumentieren sowie die gegenwärtige Situation mit den vielfachen Veränderungen in den räumlichen, sozialen und ökonomischen Zusammenhängen und Konsequenzen bezüglich der Garnisonsstadt, der Industriestadt und der Stadt der Moderne aufzuzeigen. Damit kann ein erster Schritt zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild gegangen und zu einer Versachlichung der Diskussionen gerade im Kontext des Wiederaufbaus beigetragen werden. Gleichzeitig ist damit aber auch die „Bewahrung des Gedächtnisses der Stadt“ verbunden, denn Veränderungen und Umwälzungen führen nicht selten zum endgültigen Verlust geschichtlicher Zeugnisse. Hierbei will die Universität die Frage beantworten, welche Rolle diese Facetten der Kasseler Identität für die Befindlichkeit und Entwicklung der Stadt hatten und haben und welche Widersprüche und Potenziale darin begründet liegen.Aus der Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart heraus können dann Chancen diskutiert und Lösungsmöglichkeiten für die heutigen Probleme und Perspektiven für zukünftige Entwicklungen formuliert werden. Es wird darum gehen, neue räumliche Strukturen mit verbesserten Nutzungsqualitäten zu schaffen und veränderte Lebenszusammenhänge zu fördern, um den Wandel zu kompensieren bzw. das Leben in der Stadt und Region auf Dauer lebenswert zu gestalten. Genauso kann die Auseinandersetzung auf der immateriellen Ebene im Prozess zu einem neuen Selbstverständnis, einem neuen Selbstbewusstsein führen, das es ermöglicht, Meinungsverschiedenheit und Kritik aus unterschiedlichsten Gruppen in einer lebendigen Diskurskultur für die Weiterentwicklung des europäischen Projektes „Stadt“ fruchtbar zu machen. Der intendierte europäische Austausch soll dabei sowohl der Analyse vergleichbarer Problemlagen als auch der Verbreitung guter Beispiele und Lösungsstrategien dienen.
Interdisziplinäre Bearbeitung Das Themenfeld Kultur – Identität – Stadtentwicklung ruft in der Hochschule viele Professionen auf den Plan. Ausgehend von der räumlichen Betrachtungsebene in Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung mit den zunächst formulierten Themen „Stadt der Moderne“, „Garnisonsstadt“, „Industriestadt“, verknüpfen sich eng ökonomische, politische und soziologische Fragestellungen. Letzteres gerade auch in Verbindung mit den Lebens- und Arbeitszusammenhängen und ihren Veränderungen infolge des Strukturwandels. Die Arbeit im „Labor Kassel“ kann daher nur interdisziplinär über Fachgebiets- und Fachbereichsgrenzen hinaus erfolgen und wird in dieser Konstellation von der Universität gefördert – auch mit dem Ziel, dadurch weitere Drittmittel einzuwerben. Die im Folgenden aufgelisteten Projekte mit Relevanz als Teilprojekte zum Thema Kultur – Identität – und Stadtentwicklung sind Bestandteil des Bewerbungsprozesses. Hier sind Verknüpfungen und/oder Ergänzungen durch weitere oben angesprochene Disziplinen angedacht oder vorgesehen. Dafür hat sich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe gebildet, aus der weitere Teilprojekte hervorgehen können. Entsprechende Kontakte und Vorabsprachen existieren mit: • dem WZ III (Wissenschaftliches Zentrum für Umweltsystemforschung – 1995 als eines der interdisziplinären Forschungszentren der Universität Kassel gegründet • der Kunsthochschule (Prof. H. Fischer, Prof. H. Georgsdorf u. a.) • dem Fachbereich 14, Bauingenieurwesen (Prof. Dr. U. Köhler) • dem Fachbereich 05, Gesellschaftswissenschaften (Prof. Dr. E. Henning u. Mitarbeiter) Ferner ist eine Kooperation mit der Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. S. Hauser, Universität Graz, geplant (ehem. Vertretungsprofessorin an der UNIK). In engem Zusammenhang steht die Initiative der Universität, einen interdisziplinär angelegten Studiengang Urbanistik oder Urban Development zu planen und in den nächsten Jahren z. B. durch eine Institutsgründung zu etablieren. Mit der Zusammenarbeit verschiedener Fachbereiche im Rahmen des hier skizzierten Beitrags der Universität für die Kulturhauptstadtbewerbung würden wichtige Schritte in Richtung eines Urbanistik-Studiengangs gemacht.
Folgende Projekte sind Bestandteil dieser Zusammenarbeit: Kassel und seine Identitäten - Dr. Friedhelm Fischer Die fünfziger Jahre in Kassel in einem neuen Licht - Qualitäten,Defizite und Strategien zur Veränderung - Prof. Ingrid Lübke, FB 06 (Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung) Netzwerk Industriekultur Nordhessen (NINO) - Prof. Christian Kopetzki, FB 06 (Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung) Konversation als Chance der Stadtentwicklung - Prof. Christian Kopetzki, FB 06 (Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung) Stadt – Garten – Kunst - Prof. Christian Kopetzki, FB 06 (Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung) Kassel Open City: 144+1 Dialoge - Prof. Dr. Detlef Ipsen, FB 06 (Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung) Stadt-Land-Schaft - Prof. Wolfgang Schulze, Fachgebiet Entwerfen im städtebaulichen Kontext
Initiatoren: Universität Kassel, Prof. Christian Kopetzki, Dr. Bernt Armbruster, Dipl.-Ing. Doreen Köhler

 

6.4. Kassel isst gut!

Kassel als europäische Modellstadt für ökologische Agrar-und Ernährungskultur

Ziel des Projektes ist, dass sich Kassel bis zum Jahr 2010 zur europaweit anerkannten Vorreiterregion für eine ökologische Agrar- und Ernährungskultur entwickelt. Kassel hat die Potenziale für ein Zentrum eines Europäischen Netzwerkes für ökologische Agrar- und Ernährungskultur. Sowohl die Universität mit ihrem differenzierten Angebot im Bereich Agrar und Ernährung als auch öffentliche Einrichtungen und Unternehmen sollen ein Netzwerk bilden, das sowohl eine kulturelle als auch eine wirtschaftlich stabilisierende und entwickelnde Wirkung entfaltet. Positive Impulse ergeben sich etwa für die Bereiche Gesundheit, Tourismus, Beschäftigung und kulturelle Stadtentwicklung. Daneben wird durch solch ein Konzept der Stadt-Land-Dialog befördert.
Kassel hat bereits eine Vorreiterrolle Schon heute nimmt Kassel in diesem Bereich eine europaweite Vorreiterrolle ein. Wie viele andere Kasseler Schätze ist dies jedoch kaum bekannt; die Bereiche arbeiten bisher nur begrenzt zusammen. 1. Die Universität ist europaweit die einzige Einrichtung ihrer Art, die ihren gesamten Fachbereich Landwirtschaft mit derzeit 20 Professoren auf die ökologische Agrar- und Ernährungskultur ausgerichtet hat. Neben der Landwirtschaft gibt es die neue Stiftungsprofessur für ökologische Ernährung; ab 2004 eine neue, europaweit einzigartige Stiftungsprofessur für biologisch-dynamischen Landbau. Durch den großzügigen und ökologisch geführten Versuchsbetrieb „Gut Frankenhausen“ ist der universitäre Bereich intensiv mit der Region und der Praxis verbunden 2. Verschiedene öffentliche Einrichtungen integrieren zunehmend ökologische Ernährungskonzepte in die Gemeinschaftsverpflegung. Hierzu zählen Kindergärten, Horte, Schulen und die Universität 3. Daneben gibt es Unternehmen, die sich der ökologischen Ernährungskultur verschreiben:
tegut tegut ist einer der europaweit führenden Anbieter ökologischer Lebensmittel im Sektor großflächiger Lebensmitteleinzelhandel. Es werden weit über 1000 verschiedene Produkte in zurzeit 15 Märkten in Kassel angeboten. Ökologische Back-, Fleisch- und Wurstwaren werden in spezialisierten Tochterunternehmen selbst hergestellt. Das Unternehmen pflegt partnerschaftliche Verhältnisse zu seinen Lieferanten. Die Waren werden zunehmend aus der Region bezogen. Tegut ist aktives Mitglied des World Organic Supermarket Club, eines Zusammenschlusses vorwiegend europäischer Supermarktketten mit ökologischer Ausrichtung.
Alnatura Alnatura gehört zu den größten Markenartikelherstellern für ökologische Produkte in Europa. In Deutschland und damit auch in der Region Kassel sind diese Produkte flächendeckend verfügbar. Neben dem Vertrieb über tegut und die Drogeriemarktkette dm hat Alnatura ein Netz von eigenen Super-Biomärkten aufgebaut. Diese zählen im Hinblick auf Ausstattung, Sortiment und Qualität zur Spitze des europäischen Angebots.
Krankenversicherung BKK Gothaer, Verkehr und Dienstleistung Die BKK Gothaer, mit Hauptsitz in Kassel, ist eine Krankenversicherung, die der Gesundheitsprophylaxe einen besonderen Stellenwert einräumt. Hierbei werden besonders Maßnahmen einer gesunden Ernährung unterstützt. Die Versicherung zeichnet sich besonders durch eine intensive Kundenkommunikation und aktive PR- und Marketingkonzepte aus.
Bio-Catering Marbachshöhe Das Unternehmen hat sich in nur zwei Jahren zu einem der bundesweit größten Anbieter von ökologischer Verpflegung für Kindergärten, Horte und Schulen entwickelt. Die konsequente Strategie einer regionalen und saisonalen Warenbeschaffung bei preis- und akzeptanzoptimierten Speiseplänen führt zu Kostenersparnissen, die in voller Höhe dem Kunden zugute kommen. Der für die praktizierte Frischproduktküche höhere Arbeitsaufwand kann durch die Integration schwer vermittelbarer Erwerbsloser (Schwerbehinderte, Migranten, Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende) und die Nutzung der dafür bereitstehenden Fördermittel realisiert werden. Hierdurch entstehen Produkte von höchster Qualität zu akzeptablen Preisen. Das Unternehmen hat Modellcharakter. Die entwickelten Strategien lassen sich auf andere Regionen übertragen. Schon heute haben alle hier genannten Partner Beispiel- und Modellhaftes für die Umsetzung einer ökologischen und damit nachhaltigen Agrar- und Ernährungskultur geschaffen. Bisher sind Kommunikation und Zusammenarbeit jedoch nur unzureichend. Potenziell vorhandene Synergien werden kaum genutzt. Im Rahmen des Projektes „Kassel isst gut“ werden die Akteure intensiver zusammenarbeiten, um eine beispielhafte Modellregion zu entwickeln.
Teilziele sind dabei: • Der Stellenwert einer gesunden und ökologischen Ernährung soll weiten Bevölkerungskreisen bekannt werden. • Die Krankenkassen nutzen die Kostenersparnis durch konsequente Gesundheitsprophylaxe insbesondere im Ernährungsbereich • Die Bedeutung der Regionalversorgung mit Grundlebensmitteln soll bekannter werden und zur Belebung regionaler Handelsbeziehungen führen, Wertschöpfung und Beschäftigungseffekte sollen entstehen • Der überwiegende Teil der Gastronomie bietet mindestens ein ökologisches Gericht und Getränk an. Neben anderen Maßnahmen wird hierdurch ein gesundheitlich und wellness-orientierter Tourismus aktiviert • Auch im überwiegenden Teil der öffentlichen Einrichtungen mit Gemeinschaftsverpflegung sowie in Kindergärten, Horten und Schulspeisungen werden mindestens ein ökologisches Gericht und ein ökologisches Getränk angeboten • In den Schulen werden Programme zur Bedeutung einer gesunden Ernährung durchgeführt
Initiator: Universität Kassel, Dr. Harald Hoppe

 

6.5. Kassel und seine Identitäten

Städte, ebenso wie Landschaften, haben ihre eigene Identität, die sich im Laufe der Zeit herausbildet, verändert und zugleich bestimmten Grundstrukturen langfristig folgt. Sie zur Kenntnis zu nehmen und in der Stadtentwicklung zu berücksichtigen lohnt sich. Nicht nur Wirtschaftsförderung und Stadtmarketing haben die Bedeutung der Ortsidentität als „weicher Standortfaktor“ erkannt. Auch in Planung und Architektur hat sich erwiesen, dass ein behutsamer Umgang mit Bauten, Freiräumen und Menschen sich nicht zuletzt als langlebiger und effizienter erweist als eine Vorgehensweise, die sich über gewachsene Identitäten hinwegsetzt, sie umkrempelt. Kassel hat durch die Kriegszerstörung und den Neuaufbau im Sinne der städtebaulichen Moderne einen besonders markanten Bruch in seiner städtebaulichen Identität erlitten. Die Stadt teilt dieses Schicksal mit anderen Städten in Europa. Die Auseinandersetzung mit solchen Identitätsbrüchen ist für diese Städte ein ausgesprochen langfristiger Prozess, den einzelne Gruppen und aufeinander folgende Generationen teilweise in recht unterschiedlichem Licht gesehen haben. In Kassel haben die Geringschätzung baulicher Verluste oder die Verklärung der Historie, das Gefangensein in der Trauer über das Verlorene, Begeisterung über neue Aufbrüche, Unbehagen, Kritik und Desillusionierung zu wahren Wechselbädern der Betroffenheit geführt und machen es bis heute schwer, zu einer einvernehmlichen Beurteilung zu gelangen. In diesem Generationen umspannenden Prozess setzt die Bewerbung der Stadt Kassel als Kulturhauptstadt einen besonderen Akzent: Für die Stadt stellt sich damit die Aufgabe der Darstellung der eigenen Identität auf einem neuartigen Anspruchsniveau. Die europäische Dimension gewinnt eine gesteigerte Bedeutung, und der Neuaufbau der Stadt erweist sich dabei als herausragendes Exempel innerhalb des „Projekts der Moderne“. Dieser Begriff meint einen Prozess, der unsere Kultur aus der mittelalterlichen Geisteswelt in eine Welt naturwissenschaftlicher und technischer Möglichkeiten, aber auch sozialer Ambitionen und neuer Widersprüche hineinkatapultiert hat, einen fortdauernden Lernprozess, der Revisionen und Kurskorrekturen benötigt – zumal in Phasen besonders rascher und großmaßstäblicher Umwälzungen, wie sie für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg charakteristisch waren. In dieser Zeit, den fünfziger und sechziger Jahren, wurde Kassel als „Neue Stadt auf Altem Grund“ aufgebaut. Was in dieser Zeit in weiten Teilen Deutschlands als vorbildlich für den Städtebau galt, etwa die Betonung des Autoverkehrs und die Zusammenfassung der kleinen, mittelalterlichen Grundstücke zu Großparzellen mit neuen funktionalen Zuschnitten, wurde seit den achtziger Jahren in einem zunehmend kritischen Licht beurteilt. Zwar ist nach einer Phase der kulturellen Entwertung der Produkte der fünfziger Jahre die Wertschätzung für deren Qualitäten gewachsen. Doch bleibt unbestritten, dass die städtebaulichen Strukturen, die in der Aufbauzeit geschaffen wurden, einer Korrektur bedürfen. Die Suche nach den Ansatzpunkten und Möglichkeiten für eine solche Korrektur trägt – ebenso wie seinerzeit die Entscheidung für den radikalen Neuaufbau der Stadt – über Fragen der technischen und wirtschaftlichen Machbarkeit hinaus starkekulturpolitische Züge. Im Rahmen der Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas gewinnt diese Aufgabe besondere Aktualität, gewinnt eine dezidierte Positionsbestimmung der Stadt bezüglich ihrer Identität besondere Dringlichkeit: Die Stadt muss wissen, welches Bild sie von sich hat. Und dieses Bild muss aus der offenen Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und ihrer gegenwärtigen Situation hervorgehen. Das erscheint in höherem Maße offensichtlich, als es tatsächlich der Fall ist. Durchaus nicht ausgelotet ist nämlich, welche Rolle bestimmte Facetten der Kasseler Identität für die Befindlichkeit und Entwicklung der Stadt hatten und haben – von der Residenz- über die Industrie- bis zur documenta-Stadt – und welche Widersprüche und Potenziale darin begründet liegen. Zwar lassen sich diese Grundlagen durchaus wissenschaftlich erforschen – und diese Aufgabe ist Teil des hier vorgeschlagenen Projekts –, es geht aber auch um die weitere Verarbeitung dieses Wissens in einer kulturpolitischen Diskussion um Selbstbild und Identität der Stadt. Bis heute wird dieser Klärungsprozess durch eine polarisierte Diskussion erschwert, die teilweise ihre Wurzeln in den eingangs angesprochenen Wechselbädern der Betroffenheit hat. Es geht heute darum, Trauer, Begeisterung, Unbehagen und Kritik ernst zu nehmen und sie, sofern sie in Weinerlichkeit, kultureller Entwertung, Schönfärberei oder Polemik verharren, zu verarbeiten und zu transzendieren. Zu den Ergebnissen dieser Prozesse gehören auf der materiellen Ebene Entscheidungsgrundlagen für Umbaumaßnahmen und neue räumliche Strukturen mit gesteigerten Nutzungsqualitäten. Auf der immateriellen, der geistigen Ebene winkt die Möglichkeit, zu einem neuen Selbst-Verständnis zu gelangen, einem neuen Selbstbewusstsein, das es unter anderem ermöglicht, Meinungsverschiedenheit und Kritik aus unterschiedlichsten Gruppen, komme sie von Fachleuten oder aus der breiten Bürgerschaft, von „nordhessischen Nörglern“ oder Auswärtigen, in einer lebendigen Diskurskultur für die Weiterentwicklung des „Projekts Stadt“ fruchtbar zu machen. Nun steht die Stadt Kassel mit ihrer Problematik der Identitätsbrüche und des Aufbaus im Sinne der städtebaulichen Nachkriegsmoderne nicht allein da. Sehr deutlich teilt sie dieses Schicksal mit anderen europäischen Städten wie Coventry, Rotterdam und zahlreichen Städten in Osteuropa. Das hier vorgeschlagene Projekt richtet den vergleichenden Blick auf den Umgang derartiger Städte mit dieser Problematik. Letztlich geht es dabei um die Frage nach Handlungsansätzen zur Weiterentwicklung der städtebaulichen Identität, die die Stadt von heute lebenswerter machen, aber auch um einen Beitrag zu einem großen kulturpolitischen Thema: zur Auseinandersetzung mit der Rolle der Moderne in Europa. Die Bearbeitung dieses anspruchsvollen Themenkomplexes soll in Diskussion und Kooperation mit europäischen Partnern erfolgen und 2010 in einer internationalen Veranstaltung kulminieren.
Daraus ergeben sich die folgenden Arbeitsschritte des bis 2010 angelegten Projektes: Forschung und Kooperation auf europäischer Ebene: Im Mittelpunkt der Zeit bis in das Jahr vor Projektabschluss (also bis 2009) stehen Forschungen zu Aspekten der Kasseler Identitäten sowie zum Stand der internationalen Diskussion zum Themenkomplex „Moderne und Identität“. Es macht Sinn, diese Arbeitsphase von Anfang an mit den europäischen Partnern zu koordinieren. Was dabei die Auswahl der europäischen Städte betrifft, so bieten sich auf Grund bereits vorliegender Veröffentlichungen und Arbeitskontakte Coventry und Rotterdam eindeutig an. Was Osteuropa betrifft, so ist die Entscheidung noch offen. Die Forschung stützt sich sowohl auf die Auswertung schriftlicher Quellen in Archiven und Bibliotheken als auch auf empirische Ansätze in Form von Interviews mit Bürgern und Experten aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Architektur und Planung. Beabsichtigt ist, die Zwischenergebnisse periodisch in die Öffentlichkeit zu bringen (Veröffentlichungen, Ausstellungen) und in öffentlichen Diskussionen den oben angesprochenen Prozess der Positionsbestimmung der Stadt bezüglich Selbstbild und Identität zu befördern. Und schließlich geht es darum, diese Ansätze auf ihre Relevanz für konkrete städtebauliche Maßnahmen und Entwurfskonzepte hin zu untersuchen und ggf. umzusetzen. Als erstes Beispiel für diese Vorgehensweise liegt bereits der Entwurf für ein du Ry gewidmetes wassertechnisches Bauwerk in der Aue vor, der aus dem studentischen Projekt „Kassel und seine Identitäten“ hervorgegangen ist, zur Realisierung vorgeschlagen ist und von der Stadt Kassel zusammen mit der Unterneustadt und dem neu gestalteten Florentiner Platz als exemplarisches Baukulturprojekt an den Deutschen Städtetag gemeldet wurde. Letzter Arbeitsschritt innerhalb der offiziellen Laufzeit des Projekts ist die Durchführung eines internationalen Kongresses, verbunden mit einer größeren Veröffentlichung. Darüber hinaus ist die Auseinandersetzung mit der Identität der Stadt und mit ihrer Rolle in Europa jedoch ein Prozess, der nicht im Jahre 2010 beendet sein kann. Koordination und Abwicklung des Projekts: Arbeitgruppe Städtebau und Stadtbaugeschichte an der Universität Kassel, im engeren Sinne Prof. Christian Kopetzki (als Mitglied der Universität bis 3/2005) und Dr. Friedhelm Fischer. Kooperationen und enge personelle Beziehungen bestehen bereits zu Coventry, zur Partneruniversität Reading (beide Großbritannien) sowie zu Rotterdam (Prof. I. Lübke, s. a. Projektvorschlag fünfziger Jahre). Die Auswahl osteuropäischer Partner muss noch getroffen werden.
Initiatoren: Dr. Friedhelm Fischer, Prof. Hardy Fischer, Prof. Christian Kopetzki, Prof. Ingrid Lübke

 

6.6. Konversion der Rüstungsindustrie

Hinweise zu Tradition und Modernisierungsprozessen in der Kultur

Rüstungstechnik ist Teil der Industriekultur. Kultur ändert sich, ist veränderbar. Ziel des Projektes ist es, die Rüstungsindustrie in friedliche Produktion umzuwandeln. Auf einem Kongress sollen Beispiele geglückter Konversion aus der ganzen Welt präsentiert und auf ihre Umsetzbarkeit hin diskutiert werden.
1. Das alleinige Privileg zur Herstellung von Kanonen, Glocken, Feuerspritzen und anderem erhielt ursprünglich die Firma Henschel von Landgraf Friedrich II. zu Hessen im Jahre 1785. Auf der normativen Grundlage des landgräflichen Rechtsinstitutes wurde eine manufakturelle Infrastruktur für die Rüstung entwickelt. Das war die Voraussetzung zur Weiterentwicklung modernster Rüstungsindustrie für das 19. und 20. Jahrhundert im Zentrum Deutschlands. Dieser Prozess barg verschiedene Konsequenzen in sich: Neben Handwerkern, Ingenieuren, Angestellten etc. wurden bald auch Arbeiter in den Werken benötigt. Und diese strukturelle Veränderung hatte enorme Einwirkungen auf die Wohnkultur in Werksnähe dieser Gruppen. Sie machte unter anderem auch die Weiterentwicklung der Curricula in der Schule und der Ausbildung notwendig. Insofern veränderte das Privileg in seiner unternehmerischen Umsetzung die bestehenden kulturellen Verhältnisse.
2. Die Vereinten Nationen erklären den Zeitraum 2001–2010 zur „Internationalen Dekade für eine Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit zu Gunsten der Kinder der Welt“. Auszug aus dem Aktionsprogramm: Förderung der allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle, unter Berücksichtigung der von den Vereinten Nationen auf dem Gebiet der Abrüstung festgelegten Prioritäten; gegebenenfalls Heranziehung der einer Kultur des Friedens förderlichen Erfahrungen aus Rüstungskonversionsmaßnahmen in einigen Ländern der Welt (UN-Resolution: Maßnahmen zur Förderung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit – A/RES/53/243, Artikel 16, v. 6. Oktober 1999).
3. Die europäische Agenda 21 unterstützt Rüstungskonversionsprojekte.
Initiator: Peer Schröder, Verband deutscher Schriftsteller, Kassel

 

6.7. Projekte der Universität unter anderen Herkules-Aufgaben

Der Weg zum europäischen Hochschulraum Bis zum Jahr 2010 wird sich im Zuge der europäischen Entwicklung der „Europäische Hochschulraum“ konstituieren. Kassel soll der Ort für die Bilanz-Konferenz der europäischen Hochschulen werden, auf deren Grundlage die Regierungen dann den „Europäischen Hochschulraum“ etablieren werden. Im Jahre 1999 kamen die Wissenschafts- und Erziehungsminister von fast 30 Ländern in der „Bologna-Erklärung“ überein, in Europa ähnliche Strukturen von Studiengängen und -abschlüssen einzuführen. Seitdem finden im Abstand von zwei Jahren zunächst Konferenzen der europäischen Hochschulen statt, um den „Bologna-Prozess“ zu bilanzieren und die nächsten Schritte zu formulieren. Bis zum Jahre 2010 soll Europa zum dynamischsten, attraktivsten und wettbewerbsfähigsten Hochschul- und Forschungsraum werden. Graz war als europäische Kulturhauptstadt von der Europäischen Universitätsvereinigung (EUA) Gastgeber für die Bilanzkonferenz, die Universität Kassel schlägt vor, dass im Jahre 2010 in Kassel Bilanz gezogen wird. Kassel bietet sich auch deshalb als Ort an, weil die Universität diejenige in Deutschland ist, die gestufte Studiengänge weit früher einführte, als sie durch den „Bologna-Prozess“ zum europäischen Modell erkoren wurden. Schließlich verfügt die Universität Kassel mit ihrem Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung über ein europäisch und international renommiertes Forschungsinstitut, das sich mehr als jede andere Forschungseinrichtung mit dem Vergleich europäischer Hochschulsysteme und mit der Internationalisierung der Hochschulen befasst. Auf dem Weg zur Etablierung des Europäischen Hochschulraums wird das Wissenschaftliche Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung ab 2005 in jedem Jahr eine Konferenz durchführen, in der die wichtigen Fragen der Europäischen Hochschulentwicklung behandelt werden. Die Ergebnisse der Konferenz-Serie werden in die Abschluss-Konferenz zur Konstituierung des Europäischen Hochschulraums 2010 eingebracht.
Bürger gestalten mit „7000 zeichen“ ihre Stadt Kassel hat sich durch die documenta als Hauptstadt zeitgenössischer Kunst profiliert. Jetzt wird sie einen erweiterten Kultur- und Kunstbegriff entwickeln, der möglichst viele Bürger in einem stadtgesellschaftlichen Aufbruch mobilisiert, der nicht nur offenbart, was die Stadt an verborgenen Schätzen besitzt, sondern gleichzeitig zur Entwicklung einer anregenden Stadtkultur führt. Das Projekt „7000 Zeichen“ – entwickelt vom Institut für Partizipationsdesign an der Universität Kassel – knüpft sowohl in der Namensgebung als auch im Inhalt bewusst an Joseph Beuys an, wonach jeder Mensch ein Künstler sei. Auch Beuys’ Idee von der „sozialen Plastik“ soll damit neu interpretiert werden. Das Projekt ist als siebenjähriger Prozess konzipiert, der in verschiedenen Etappen zu einer kulturellen Umgestaltung der Stadt durch Bürgerfantasie führt. Zum Auftakt finden unter dem Motto „Lust auf Zukunft“ Zukunftswerkstätten statt. Ideen werden in Form eines „Zeichens“ und eines Ergebnisposters so dargestellt, dass auch Unbeteiligte schnell einen Eindruck vom Charakter des jeweiligen Vorhabens erhalten. 7000 Zeichen sind das Ziel, das bis 2010 erreicht werden soll. Alle Zeichen bzw. Projekte werden in einem Katalog und einer Wanderausstellung dokumentiert. In diesem Prozess soll der „Marktplatz“ als offenes Bürgerforum wiederentdeckt werden. Eine Reihe von Bürgerforen werden dazu auf dem Königsplatz organisiert. An 100 Tagen wird die Stadt mit den Zeichen, den Projekten, den Ideen, den Aktionen und den konkreten Ergebnissen „möbliert“ sein. Daneben wird es ein Begleitprogramm „Europäischer Zukunftsdialog – Bürger gestalten ihre Stadt“ geben. Bei Bürger-, Politiker- und Expertenforen werden sowohl einzelne Projekte als auch die Frage des stadtgesellschaftlichen Aufbruchs und der Zukunft der Demokratie in Europa diskutiert. Die gesamte Aktion mündet in ein Europäisches Fest der Bürgerfantasie. Sobald das Projekt „7000 Zeichen“ in Kassel gestartet ist und sich zu stabilisieren beginnt, wird durch die Kooperation mit Kassels europäischen Partnerstädten eine Ausweitung eingeleitet. Denkbar sind ähnliche Veranstaltungen in den Partnerstädten. So werden durch den Austausch von Bürgerfantasien europäische Kulturnetze gesponnen.
Technikmuseum erneuerbare Energien Die Kasseler Universität ist Vorreiter für die Entwicklung von Lösungen für die Nutzung erneuerbarer Energien. Ein darauf spezialisiertes Museum, das aber auch Teil eines industriegeschichtlichen Museums sein kann, ist geplant.
Gartenkulturpfad vereint grüne Sehenswürdigkeiten Wohl kaum eine andere Stadt dieser Größenordnung in Deutschland kann mit einem solchen Potenzial historischer Parkanlagen aufwarten wie Kassel. Darüber hinaus verbindet eine Vielzahl kleinerer Parks und Grünanlagen das Stadtbild nach allen Himmelsrichtungen mit der umliegenden Landschaft. 43 Kleingartenanlagen mit zahlreichen Auszeichnungen in Bundes- und Landeswettbewerben zeugen von einer blühenden Gartenbaukultur, die alle Generationen verbindet. 1955 fand die erste Bundesgartenschau in Kassel statt. 1981 entstand mit der 2. Bundesgartenschau das weitläufige Erholungsgebiet der Fuldaaue. 1982 wurde mit dem documenta-Beitrag „7000 Eichen“ von Joseph Beuys die „Stadtverwaldung“ initiiert. All diese gärtnerischen Sehenswürdigkeiten sollen im Rahmen der Kulturhauptstadtbewerbung zu einem „Gartenkulturpfad“ vereint werden. Vorbild ist der 1. deutsche Gartenkulturpfad in Fulda, der auf Anregung der Deutschen Gartenbau-Gesellschaft entwickelt und 2002 eröffnet wurde. Der Kasseler Pfad wird den Begriff „Gartenkultur“ sehr breit interpretieren. Stationen sind neben historischen Garten- und Parkanlagen auch Naherholungs- und Naturschutzgebiete, aber auch Industriebrachen, daneben Kleingärten, Innenhöfe, Friedhöfe, Kindertagesstätten und Schulhöfe. Der Gartenkulturpfad wird zur Bühne für Veranstaltungen. Dazu ist eine Kooperation mit den Kasseler Museen geplant. Projekte der Kulturhauptstadtbewerbung (z. B. Permakultur, Klanginstallationen, Erfahrungsraum der Sinne, Miradouros) können in den Gartenkulturpfad integriert werden. Dieser vom städtischen Gartenamt initiierte Projektvorschlag korrespondiert mit einer ähnlichen Idee aus der Universität, die darüber hinaus eine künstlerische Gestaltung von Stationen einen Gartenkulturparks vorsieht.
Städtebauliches Netzwerk der Kultur Das „Netzwerk Kultur“ ist die eindrückliche und erfahrbare Verbindung von Kulturstandorten in der Innenstadt – etwa durch Neubauten, durch eine kulturelle Nutzung leer stehender Gebäude oder durch Skulpturen-Parcours. Es wird eine „steinerne“, architektonische Achse geben sowie eine „grüne“, landschaftsorientierte. In ein solches Netzwerk werden Kulturhauptstadtprojekte wie das documenta-Haus oder das Kinderkulturzentrum eingebunden.
Spielfilmarbeit mit Jugendlichen zur Mitgestaltung des kulturellen Lebens Mit spannend gestalteten realistischen Kurzspielfilmen sollen junge Menschen ihre Themen, ihre Wünsche und Visionen für ihr Leben in Kassel entwickeln. Die Ausweitung des Projektes auf europäische Partnerstädte fördert die interkulturelle Begegnung und die Auseinandersetzung mit Sinn stiftenden Fragen der eigenen und der fremden Alltagsrealität.
Kunsthochschule als Multiplikator Die Kunsthochschule Kassel verfügt über hervorragende nationale und internationale Verbindungen. Diese sollen im Zuge des Kulturhauptstadtbewerbungsprozesses genutzt werden, um die Idee der Bewerbung außerhalb Kassels zu verbreiten. Neben einem Netzwerk zu anderen Hochschulen sowie Ausstellungshäusern besteht eine Vielzahl von Kontakten durch Professoren, Studierende und Absolventen, die in der ganzen Welt unterwegs sind. Sie werden so als Botschafter der Kulturhauptstadtbewerbung wirken.
Gartenkunst und ihre Deutung – ein Forschungsprojekt Die Gartenkunst als Disziplin der Kunstgeschichte entwickelte ihre Stile durch alle Epochen der europäischen Geschichte. Doch es fehlt eine wissenschaftliche Untersuchung zur Deutungs- und Wahrnehmungsgeschichte des Gartens. Das Forschungsvorhaben „Gartenkunst und ihre Deutung“ der Kasseler Kunsthochschule wird Park-, Garten- und Kuranlagen sowie städtische Planungen und kulturell genutzte Naturräume untersuchen. Die „Landesgartenschau 2006 Bad Wildungen GmbH“ hat zur Unterstützung die Ausrichtung eines themenbezogenen Symposiums und die Finanzierung einer Gastprofessur an der Kunsthochschule avisiert.
Mit dem Oktogon-Projekt wird ein Traum wahr Arnold Bode – der Vater der documenta – hatte einen Traum, den er selbst nicht mehr verwirklichen konnte: Im achteckigen Schloss zu Füßen des Herkules hoch oben in Europas größtem Bergpark Wilhelmshöhe sollte ein Ausstellungsraum mit ungewöhnlichen Dimensionen entstehen. Bode wollte „eine Architekturidee der Vergangenheit mit Ideen der Gegenwart konfrontieren“. Das Kulturhauptstadtjahr ist der passende Moment, um Bodes Idee aufzugreifen und endlich in die Realität umzusetzen. Das barocke Bauwerk – in den vergangenen Jahren zu Erstarrung und Nutzlosigkeit verdammt – wird so zu einem herausragenden und herausfordernden Spielort zeitgenössischer Kunst. Das vom italienischen Architekten Giovanni Francesco Guerniero zwischen 1713 und 1717 erbaute „Oktogon“ wird auf diese Weise zum Leben erweckt und zugänglich. Bode dachte nicht nur an die bildende Kunst, sondern auch an Theater, an Musik, an Tanz, an Film. Seine Idee kam damals zu früh. Der technische und der materielle Aufwand wären viel zu groß gewesen. Heute jedoch stehen den Künsten Möglichkeiten zur Verfügung, die eine Bespielung des Oktogons wesentlich unkomplizierter und zugleich wirkungsvoller werden lassen. Erst jetzt haben Künstler ein Sensorium und ein Know-how für den Umgang mit solchen ungewöhnlichen Räumen entwickelt. So wird jetzt der Traum von Arnold Bode endlich verwirklicht.
Schaufenster der Kunsthochschule im Stadtzentrum Ein neuer Ausstellungsraum der Kunsthochschule in der Kasseler Innenstadt schafft einen intensiven, alltäglichen Kontakt zwischen Kunststudenten und Bürgern. Zugleich sorgt er für „Input“ in die städtische Kunstszene. Aktionen, Performances, Ausstellungen, Filmvorführungen, Meisterschüler- und Prüfungspräsentationen, Vorträge und Ringvorlesungen sind dort zu erleben. Auch die Professoren der Kunsthochschule zeigen ihre Arbeiten.
Alpha Crew kreiert ein Kunst-Universum Seit der Documenta11 belebt die Künstlergruppe „Alpha Crew“ das leer stehende Polizeipräsidium. Einzelne Künstler und kleine Teams gestalten im „Check-Point-Alpha-Plus“ fast jeden Monat eine Ausstellung. Daneben präsentiert sich die „Alpha Crew “ im Ausland sowie an anderen Orten der Stadt. Für die Kulturhauptstadt soll ab 2004 ein „Alpha-Universum“ auf einer Freifläche in der Innenstadt entstehen, in das Kunstwerke von bekannten Künstlern aus der ganzen Welt eingelagert werden und das sich durch eine Bepflanzung in eine blühende Oase verwandelt.

 

6.8. Stadt-Land-Schaft

Kassel auf dem Weg zur Regionalstadt

Im Fachgebiet Entwerfen im städtebaulichen Kontext der Universität wird an einem städtebaulichen und architektonischen Forschungsprojekt gearbeitet, welches die räumliche Entwicklung im Großraum Kassel in einer visionären Perspektive bildhaft formuliert. Dabei geht es zunächst um eine Simulation von zukünftigen Wachstums- bzw. Schrumpfungsprozessen und deren Abbildung in der Realität in den einzelnen regionalen Bereichen. Der Radius der Betrachtung liegt bei etwa 10 bis 15 km mit Mittelpunkt im Stadtzentrum und umfasst auch die Kommunen Vellmar, Habichtswald, Söhrewald, Kaufungen, Baunatal etc. Wir gehen davon aus, dass die zeitgemäße zukünftige Stadt aus einzelnen Fragmenten eher polyzentrisch zusammengesetzt ist, die gleichwertig mit unterschiedlichen Schwerpunkten nebeneinander liegen. Innerhalb des Untersuchungsgebietes wurden verschiedene prognostizierte Bevölkerungsdichten mit ihren räumlichen Konsequenzen untersucht und dargestellt.
Eine aus diesem Forschungsprojekt ausgekoppelte Studie für die Kulturhauptstadtbewerbung soll lauten: „Von der Residenzstadt zur Regionalstadt“. Die kommenden, auch politischen Veränderungen in Stadt und Region, hervorgerufen vor allem durch die dramatische demografische Entwicklung, sollen in eine positive Vision gewandelt werden. Diese positive Sicht auf die fragmentierte Stadt führt zum Begriff der „Stadt-Land-Schaft“. Die Idee könnte sich in Kassel einrichten als ein mit großen Grün- und Gartenräumen geprägter kontinuierlicher Siedlungsraum mit verschiedenartigen Dichten und Funktionen sowie durch die Landschaft verlaufenden Verkehrswegen. Die einzelnen Stadtteile, die historisch gewachsenen Dörfer oder auch die größeren Siedlungseinheiten der Peripherie bilden sich als „Inseln“ innerhalb dieses „durchlaufenden“ Landschaftsraumes ab. Die Anlage der Stadt hierzu ist vorhanden, denkt man an ihre nach dem Krieg locker wiederaufgebaute „moderne“ Erscheinung. Beispiele sind der Grünzug vom Altmarkt den Auehang hinauf zur Neuen Galerie mit eingestelltem Regierungspräsidium, Theater, Ottoneum etc., die Wohnstadt Waldau oder auch die Bebauung am Rothenberg von Haeseler aus den dreißiger Jahren. Hinzu kommen selbstverständlich die Präsenz der großartigen historischen Gartenanlagen in Stadt und Region (Bergpark, Karlsaue, Wilhelmsthal etc.) sowie die nach dem Krieg neu angelegten Freizeitparks (z. B. Bundesgartenschaugelände). Zählt man die ohnehin schwer besiedelbaren und brachliegenden Bahn-, Industrie- und Konversionsflächen hinzu, so ist ein mit hohem Freiflächen- bzw. Gartenanteil durchsetzter Siedlungsraum in Ansätzen bereits vorhanden.
Ideal und Realität Heute wird die Diskussion um den Strukturwandel in den Städten Europas, hervorgerufen auch durch den prognostizierten Bevölkerungsrückgang und die damit befürchteten wirtschaftlichen Einbußen, vornehmlich konservativ geführt. Blickt man auf die stadträumlichen Diskurse, zeichnet sich eine folgende Sichtweise ab: Das Ideal ist nach wie vor die traditionelle europäische Stadt mit einem hoch verdichteten und multifunktional genutzten Kern. Die Stadt grenzt sich scharf ab gegenüber ihrem umgebenden Landschaftsraum. Diese Vorstellung eines „erkennbaren urbanen Körpers“ wird auf allen kulturellen Betrachtungsebenen (Literatur, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Architektur, Ökologie, Städtebau etc.) idealisiert und auch als tragfähiges Modell einer zukünftigen Stadtentwicklung in den Blickpunkt gerückt. Entsprechend äußert sich die Kritik an den aktuellen urbanen Abläufen: Revision der Moderne (hier hauptsächlich Kritik am Wiederaufbau nach dem Krieg), Zersiedlung der Landschaft, Verlust der europäischen Stadt mit Ausdünnung der Zentren, ja sogar Verlust der Landschaft bis hin zu den ökologisch sowie ökonomisch besetzten Themenfeldern wie Baulandverbrauch, Störung des Ökosystems etc. Die von der Politik aufgelegten Förderprogramme (Urban, Ab in die Mitte, Stadtumbau etc.) verfolgen gleiche Kritiken, Inhalte und Zielsetzungen.
Einige Beispiele nicht nur aus der städtischen Realität der Kasseler Region: Gut ausgebaute Straßen lassen die langen Wege ins Zentrum kurz werden, günstige Baulandpreise im Umland der Stadtzentren schonen die Geldbeutel und lassen Spielräume für individuelle Wohnwünsche an den Rändern der Stadt. Die geplante Regio-Tram, eine Art Straßenbahn ins Stadtumland, wird die Leute auch ohne teures Auto nun in kurzer Zeit direkt in die Einkaufsstraßen der Innenstadt oder die Einkaufszentren der Peripherie bringen. Der Gürtel der Einfamilienhäuser wächst noch, die Innenstadt schrumpft bereits, sie verliert ihre Wohnfunktion sowie ihre Arbeitsplätze und steht selbst als monofunktionale Einkaufs-Freizeitstadt in starker Konkurrenz zu den leicht erreichbaren Möglichkeiten des Umlandes. Gravierend sichtbar ist die Tendenz zur Individualisierung einzelner städtischer Bereiche oder Siedlungsteile innerhalb der Region. Dies betrifft vor allem die sozialen Schichtungen mit allen ihren kulturellen und voneinander stark abweichenden Lebensäußerungen. Alle Anstrengungen, die geliebte, verdichtete, im Kontrast zur freien Landschaft stehende und durchmischte Stadt europäischen Ursprungs als Einheit wieder einzurichten oder am Leben zu erhalten, scheitern in der Realität der wie auch immer gewachsenen städtischen Regionen mit ihren divergierenden gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen. Noch nie war die Diskrepanz zwischen städtischem Ideal und bauender Wirklichkeit größer.
Kassel 2010 als Beispiel für zeitgemässe urbane Entwicklung Sehr viele europäische städtische Ballungsräume haben ähnliche Probleme des Strukturwandels zu bewältigen. Kassel als Kulturhauptstadt 2010 könnte hier beispielhaft die Möglichkeiten eines Umganges mit zeitgemäßen urbanen Vorstellungen aufzeigen. Im Vordergrund sollte dabei die Diskussion um die Ideale und deren Auswirkungen stehen. Aktualisierte Leitbilder und die darin enthaltenen Diskurse um urbane Probleme und ihre Lösungsmöglichkeiten können heute nur interdisziplinär und fächerübergreifend geführt werden. Dazu erschließen sich für Kassel folgende Perspektiven: Auf dem Weg zur Kulturhauptstadtbewerbung 2010 könnte Kassel die Chance einer erneuten documenta-urbana nutzen, zeitlich in Verbindung mit der documenta 12 als Diskussionsforum. Nicht nur, wie schon oft vorgeschlagen, sollte hier die Stadt der fünfziger Jahre thematisiert werden. Vielmehr wäre nach einer erneuten Kongruenz zwischen urbanem Ideal und seiner Auffindbarkeit in der Wirklichkeit zu fahnden. Dies erscheint nicht nur als eine wichtige Voraussetzung für die notwendige Identifikationsbildung im Rahmen der Kulturhauptstadtbewerbung Kassels 2010. Eine Kongruenz zwischen Ideal und Realität in den Denkansätzen ist wichtiger Ausgangspunkt für zukünftige urbane Konzeptionen. Beteiligt werden müssten Künstler, Gesellschaftswissenschaftler, Ökonomen, Architekten, vor allem Landschaftsarchitekten, Städtebauer etc. Die kommende Biennale in Venedig wird sich mit dem deutschen Beitrag und unter Leitung von Francesca Ferguson mit schrumpfenden Stadtprozessen künstlerisch auseinandersetzen, die neue documenta-Leitung denkt über urbanistische Fragestellungen nach.
Initiatoren: Prof. Dipl.-Ing. Wolfgang Schulze, Universität Kassel, Fachgebiet „Entwerfen im städtebaulichen Kontext“, Dipl.-Ing. Bernd Upmeyer

 

6.9. Von der Garnisonsstadt zur Konversionsstadt

Die Umwandlung militärischer in zivile Liegenschaften als Chance der Stadtentwicklung

Kassel war bis Anfang der neunziger Jahre eine der fünf großen Garnisonsstädte der Bundesrepublik, als ehemalige Residenz- und preußische Provinzstadt hat Kassel gar eine Tradition, die viel weiter zurückreicht. Viele ehemals für militärische Zwecke genutzte Grundstücke und Gebäude werden inzwischen anderweitig genutzt, nach dem Auszug der Bundeswehr muss für einige Standorte noch eine Verwendung gefunden werden. Der Prozess der Konversion ist noch in vollem Gange. Das Projekt soll einerseits die Erinnerung an die Umwandlung von militärischen in zivile Liegenschaften bewahren, zum andern soll die Konversion konsequent zu Ende geführt werden, dabei soll ein Erfahrungsaustausch – mit einer Tagung als Höhepunkt – zwischen europäischen Städten initiiert werden, die ähnliche Probleme lösen müssen. Aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gründen war die Beendigung militärischer Präsenz in der Stadt mit ohnehin erheblichen Strukturwandelproblemen und hoher Arbeitslosigkeit nicht unumstritten. Doch bereits die militärisch genutzten Liegenschaften der Residenz- und preußischen Provinzstadt waren in früheren Phasen der Stadtentwicklung umgewandelt worden. Insofern gibt es eine „Tradition der Konversion“. Beispiele dafür sind: Die ehemalige Trainkaserne am Möncheberg ist zu einem Wohnquartier geworden, einige Einrichtungen werden für das Stadtkrankenhaus genutzt. Das ehemalige Militärhospital an der Frankfurter Straße wurde ein Wohnquartier, außerdem sind Behörden dort untergebracht. Der einstige Truppenübungsplatz Dönche hat sich in ein hochwertiges Naherholungsgebiet verwandelt, an dessen Rand Wohnquartiere entstanden sind.
Aktuelle Entwicklung Mit dem Projekt „Hasenhecke“ ab Mitte der achtziger Jahre setzte Kassel Maßstäbe für die innovative Umwandlung und Weiterentwicklung von Kasernen-Arealen, als das Thema ansonsten in Deutschland noch gar nicht aktuell war. Die ab 1992 folgenden Projekte waren • ehemalige Hindenburg- und Wittichkaserne zum gemischt genutzten Stadtquartier „Marbachshöhe“ • ehemalige Graf-Haeseler-Kaserne zu einem Gewerbegebiet neuen Typs mit einigen zusätzlichen Nutzungen Beide Projekte haben ebenfalls wegen ihrer innovativen Elemente bundesweit Aufsehen erregt.
Mindestens drei ehemals militärisch genutzte Liegenschaften warten noch auf ihre zivile Wiedereingliederung in das Stadtgefüge: • der erhalten gebliebene Teil des mittelalterlichen Zeughauses im Pferdemarktquartier, derzeit nur baulich gesichert, 2003 erstmals kulturell bespielt • die ehemalige Bereitschaftspolizeikaserne in der Friedrich-Ebert-Straße • die ehemalige Lüttich-Kaserne im Anschluss an das Quartier „Marbachshöhe“
Ziele für die Kulturhauptstadtbewerbung: • qualitativ hochwertige, innovative Konversion der genannten noch unvollendeten Projekte bis 2010 • Aufbereitung der „Geschichte der Konversion in Kassel“ als wissenschaftliches Projekt mit dem Ziel von Publikationen und Ausstellungsbeiträgen • Erläuterungen der Nutzungsgeschichte aller Projekte an den Originalschauplätzen durch dauerhafte Informationstafeln im Sinne einer „Bewahrung des Gedächtnisses der Stadt“, und damit auch als Beitrag zur Diskussion über Kassels Selbstbild und Identitäten • Tagungsveranstaltungen im Jahr 2010 mit Einladung an alle bekannten europäischen Städte mit aktuellen oder absehbaren Konversionsvorhaben
Beabsichtigte Partner für dieses Projekt sind • die Stadtverwaltung (Bau- und Planungsdezernat) • die neuen Flächeneigentümer bzw. Betreiber • die Universität, insbesondere der FB 06 Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung
Das Projekt kann mit dem schon anderweitig benannten Aspekt von Konversion, der Umwandlung von militärischer in zivile Produktion (Peer Schröder, im Folgenden dargestellt), verknüpft werden. Außerdem ist denkbar, die neuen Bewohner und Nutzer der Konversionsstandorte in einen breiten Partizipationsprozess einzubinden.
Initiator: Prof. Christian Kopetzki, Universität Kassel